Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Denken. Aber wie gesagt, die Chinesen und ihre Führer werden sich aufgrund der neuen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten verändern.
SCHMIDT Ich denke, das konfuzianische System, das meiner Meinung nach immer noch lebendig ist, hat einen großen Vorteil: Es kennt eigentlich keinen religiösen Aspekt.
LEE Das stimmt. Deshalb gibt es in China auch keine Religionskämpfe.
SCHMIDT Das ist ein großer Vorteil. Der missionarische Eifer ist etwas Schreckliches. Wenn man versucht, seine Wurzeln in der Bibel zu finden, wird man feststellen, dass es da wenig Greifbares gibt. Vor einem halben Jahrhundert hatte ich einen Streit mit dem Hamburger Bischof, einem Mann, den ich schätzte und der einige Autorität besaß. Er hielt es ernsthaft für seine Pflicht, Juden zu missionieren.
LEE Diese Haltung gehört eben zum westlichen Glaubenseifer: Ich habe das Licht gesehen, und ich will, dass du es auch siehst. Positiv ausgedrückt, besteht die Motivation dieser Leute darin, dass sie glauben, die Welt besser zu machen. Andererseits kann man es auch als Arroganz auslegen, dass sie denken, sie hätten das überlegene System, das sie anderen aufzwingen wollen. Die Chinesen dagegen sagen: »Es ist nicht meine Sache, dir vorzuschreiben, wie du regiert werden willst und was du glauben sollst. Wenn ihr so regiert werden wollt, wie ihr regiert werdet, dann sei es so. Wir werden uns darauf einstellen. Lasst uns vernünftig miteinander reden, aufeinander zugehen und übereinstimmen, wo wir übereinstimmen können.«
MATTHIAS NASS Besteht ein Zusammenhang zwischen der Offenheit einer Gesellschaft und dem Stand ihrer wirtschaftlichen Entwicklung? Indien haben Sie bereits genannt. In den letzten zwanzig Jahren sind Länder wie Taiwan, Südkorea, Singapur und andere südostasiatische Staaten offener geworden, weil sie ökonomisch Erfolg hatten.
LEE Dass die Regierungsform der Inder liberaler ist, bedeutet nicht, dass sie kreativer und für neue Ideen empfänglicher sind, die Hindus sind ein sehr konservatives Volk. Die Japaner wiederum erwiesen sich als besonders lernfähig. Als Admiral Perry 1852 mit den Schwarzen Schiffen bei ihnen auftauchte, begriffen sie sofort, dass sie hoffnungslos ins Hintertreffen geraten würden, wenn sie nicht auch über diese Waffen verfügten. Also schickten sie Delegationen in alle Welt, die sich sachkundig machen sollten, wie man das Land militarisieren und industrialisieren konnte. Sie kopierten die deutsche Armee …
SCHMIDT Sie haben auch die deutsche Universität kopiert.
LEE Ja, und die britische Marine, die amerikanische Forschung – eine sehr gemischte Diät. Diese gewaltige Anstrengung verschaffte ihnen ein Jahrhundert Vorsprung vor China. Die Chinesen betrachteten es aufgrund ihrer Größe als unnötig, und dafür bezahlten sie einen hohen Preis. 1895 besiegten die Japaner die Chinesen, nahmen Qingdao und die Mandschurei ein und zerstörten ihre Marine; etwas später fiel Qingdao dann an Deutschland.
SCHMIDT Ich will daran erinnern, dass man vor vierzig Jahren überall auf der Welt von den »vier kleinen Tigern« sprach. Einer war Südkorea, das damals eine Militärdiktatur war, der zweite Hongkong, damals eine Art Demokratie, der dritte Taiwan, damals eine politische Diktatur – ich glaube, Chiang Kai-shek lebte noch –, und der vierte war Singapur unter Harry Lee. Es waren also drei unterschiedliche Regierungsformen, die sich der modernen Industrialisierung öffneten. Das heißt, dass die Regierungsform offenbar kein Hindernis für die Industrialisierung darstellt.
LEE Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Ich denke, nachdem Japan gezeigt hatte, wie überlegen es durch die Industrialisierung und die Nachahmung der westlichen Methoden geworden war, nahm das übrige Asien davon Kenntnis, und dann schloss sich ein Staat nach dem anderen dieser Entwicklung an, China ganz zuletzt. Weil es nicht industrialisiert war, musste man durch Verträge mit den Kolonialmächten Häfen öffnen, in Shanghai, Tianjin, Ningbo und andernorts. Den Chinesen dämmerte, dass sie ohne Industrialisierung am Ende wären. Die heutige chinesische Führung ist fest davon überzeugt, dass das Land aufholen muss, und zwar so schnell wie möglich.
SCHMIDT In gewisser Weise machen die Chinesen heute das Gleiche wie die Japaner vor über hundert Jahren, nach der sogenannten Meiji-Restauration. Damals kopierten die Japaner rücksichtslos alles, was sich kopieren ließ, stellten es her und verkauften es in den Westen. Mit
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