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Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)

Titel: Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Wir haben sie nicht gezählt. Aber ich glaube, unsere Lebenserwartung liegt bei rund 78 Jahren für Männer und 82 für Frauen.
    SCHMIDT Ungefähr wie in Europa.
    LEE Aber wir beharren immer noch darauf, dass die Familie die Hauptverantwortung übernimmt.
    SCHMIDT Daran mangelt es in Europa. Man betrachtet die Altersversorgung immer mehr als Verantwortung der Gesellschaft, die Menschen verlassen sich zunehmend auf den Staat. Andererseits ist der Wohlfahrtsstaat eine Errungenschaft der Europäer, die in andere Regionen transferiert werden wird, in Teile Asiens und mit Sicherheit in die Vereinigten Staaten. Der Wohlfahrtsstaat hat eine Zukunft.
    LEE Aber der Wohlfahrtsstaat muss gebändigt werden. Ich bin in meiner Jugend als Student in Großbritannien gewesen. Damals gab es den Beveridge Report – staatliche Fürsorge von der Wiege bis zur Bahre. Ich habe erlebt, wie dieses System scheiterte. Also habe ich nach meiner Rückkehr nach Singapur, wo die Briten es ebenfalls eingeführt hatten, in aller Stille eine Kehrtwende eingeleitet und gesagt: Nein, ihr müsst euch zuallererst auf die Familie stützen, und erst, wenn die Mittel der Familie erschöpft sind, werde ich euch helfen.

Helmut Schmidt und Jiang Zemin, von 1989 bis 2002 Generalsekretär der KP Chinas, 1996 in Peking. Ein Jahr zuvor hatte Jiang die Bundesrepublik besucht.
    © Archiv Helmut Schmidt

SCHMIDT Eine ähnliche Kehrtwende zurück zur Familie wird in Europa nicht mehr möglich sein. Zumal bei uns immer weniger Ehen geschlossen werden.
    LEE Ja. Aber bei Ihnen gibt es viele uneheliche Kinder. Bei uns nicht. Man bleibt unverheiratet, aber uneheliche Kinder zu haben gilt als Schande. Deshalb schrumpft die Bevölkerung rapide.
    SCHMIDT In Europa war es bis vor kurzem auch so. Mein Vater wurde 1888 unehelich geboren, und er schämte sich deswegen sein Leben lang. Er sprach mit mir darüber das erste Mal, als ich 23 Jahre alt war. Es war im Kriege, ich brauchte eine Heiratserlaubis – und dazu einen Ariernachweis. Also habe ich meinen Vater gefragt. Ich verstand sofort, dass er sich schämte – nicht wegen seines jüdischen Vaters, sondern wegen seiner unehelichen Geburt.
    LEE Soziale Einstellungen, Werte und Moralvorstellungen haben sich gewandelt und wandeln sich unaufhörlich auf der ganzen Welt.
    SCHMIDT Das bringt mich dazu, Ihnen eine Frage zu stellen, die mich seit Längerem beschäftigt und die sich auf die Religion bezieht. Wie kommt es, dass die Chinesen keine gemeinsame Religion haben?
    LEE Weil sie an die Gegenwart glauben und nicht an die Zukunft. Sie glauben nicht, dass sie nach dem Tod in einen Himmel oder eine Hölle kommen. Der Tod ist für sie endgültig. Deshalb lautet das konfuzianische Prinzip, sich sein Leben in der gegenwärtigen Welt so angenehm wie möglich zu gestalten. Sei ein Gentleman, kümmere dich um deine Frau und deine Kinder, sei deiner Familie treu ergeben, und sei dem Staat gegenüber loyal.
    SCHMIDT Aber wie erklären Sie es sich, dass die Europäer an Himmel und Hölle glauben, dass die Hindus daran glauben, die Moslems – nur die Chinesen nicht?
    LEE Weil sie keine Religion haben. Religion bringt die Menschen dazu, ein moralisches Leben zu führen, weil ihnen mit der Bestrafung in der Hölle gedroht wird. Heute glauben jedoch nicht mehr viele daran. Nur die amerikanischen Kirchen sind noch voll.
    SCHMIDT Die amerikanische Religiosität ist ziemlich naiv und außerdem oberflächlich.
    LEE Aber die Amerikaner sind überzeugt, dass die Europäer die ethischen Maßstäbe verloren haben.
    SCHMIDT Ich glaube, das Wichtigste an der Religion ist die Ethik, alles andere …
    LEE Aber die Ethik wurde durchgesetzt, indem man die Angst vor der Hölle und das Versprechen auf Belohnung im Himmel schuf.
    SCHMIDT Ich persönlich komme gut ohne Religion aus, aber nicht ohne Ethik.
    LEE Die Ethik ist aus der Religion entstanden.
    SCHMIDT Historisch betrachtet, dürften Sie recht haben. Dennoch lebten auf dieser Erde auch vor Jesus von Nazareth schon Menschen, die eine Ethik hatten.
    LEE Dazu kann ich wenig sagen, da ich mit der europäischen Geschichte der vorchristlichen Zeit nicht vertraut bin. Ich weiß nicht, was die antiken Griechen und Römer glaubten. Aber ich weiß, dass sie eine Kultur hatten, dass sie in dieser Phase der Geschichte führend in Europa waren und dass sie den Kulturen in anderen Weltteilen, einschließlich Chinas, ebenbürtig waren.
    SCHMIDT Konfuzius lebte vor ungefähr zweieinhalbtausend Jahren. Wie kommt

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