Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
Auch beim Vietnamkrieg war man unterschiedlicher Meinung: »Er wollte ihn ja beenden, aber viel zu langsam. Ich war für mehr Tempo.«
Waren Chile und Kambodscha zwischen ihnen ein Thema, der Allende-Sturz durch Pinochet und die Bombardierung des neutralen Nachbarn Vietnam durch die Amerikaner? »Weder Kambodscha noch Chile haben eine große Rolle zwischen uns gespielt«, antwortet Schmidt, »wobei ich immer geahnt, aber nicht gewusst habe, dass Henry da belastet ist.«
Was ist der Kern dieser Freundschaft? »Menschliche Zuverlässigkeit«, antwortet Kissinger. »Ich weiß, wann Helmut das Gespräch braucht, auch wenn er nie darum bitten würde. Umgekehrt weiß ich, dass er da wäre, wenn ich ihn brauchte.«
Aber heißt es nicht immer, in der Politik könne es Freundschaft nicht geben?, fragen wir Helmut Schmidt. »Ja, das ist ein Irrtum!«, raunzt er. »Diese vier Leute können sich untereinander darauf verlassen, dass der andere nichts erzählt als das, was er für seine Wahrheit hält.«
»Was er für seine Wahrheit hält«, wiederholt Schmidt. »Was man öffentlich sagt, ist in manchen Fällen was anderes.«
Kommt nicht eines hinzu, sind sie nicht alle typische Realpolitiker? Na ja, findet Schmidt, »viel stärker realistisch geprägt als etwa ideologisch, das gilt für alle vier«. Aber der Ausdruck Realpolitiker passt ihm nicht. »Den hätten wir nie benutzt! Warum sollen wir uns eine Oblate aufkleben?«
Realisten und Internationalisten zugleich. »Wir denken nicht national bei den Themen, die uns verbinden«, sagt Kissinger. »Es geht schließlich um wirklich globale Fragen, also diskutieren wir sie auch aus globaler Sicht.« Schmidt nennt Kissinger, den 1938 mit seiner Familie aus Deutschland geflohenen Juden, einen »amerikanischen Weltbürger«.
»Ich habe viele Freunde«, fährt Kissinger fort, »aber ich würde sagen, es läuft immer wieder auf diese vier hinaus. Die meisten Leute wissen gar nicht, dass die Gruppe existiert. In diesem Sinne ist sie exklusiv.«
Unser Gespräch am Nachmittag vor der Preisverleihung ist kurz, Kissinger will hinüber ins Büro Helmut Schmidts neben dem Reichstag. Aber eines möchte er noch wissen, bevor er aufbricht: Was Lee gesagt habe, als wir ihn in Singapur trafen. Wie denke er über die Freundschaft der vier?
Auch Lee hat von Vertrauen gesprochen und hinzugefügt: »Unser Verstand arbeitet ähnlich.« Mindestens einmal alle zwei Monate telefoniere er mit Kissinger; dann gehe es meist um China oder um die anderen großen aktuellen Themen der Politik. Eines noch: »Henry rief mich an, um mich zu trösten, als meine Frau Choo starb.« Das hat ihn berührt.
Ja, sagt Kissinger: »Ich habe ihn damals fast jeden Tag angerufen.« Denn in Lees Kultur sei es sehr schwer, der persönlichen Trauer Ausdruck zu geben. Habe er den Freund trösten können? »Ich denke, es hat ihn getröstet, über Choo sprechen zu können, ja.«
Am Ende des Lebens, wenn Bilanz gezogen wird, dann bleibt dies: die Freundschaft, die Partnerschaft, die Liebe. »Lebte meine frühere Frau noch, dann wären wir heute seit fast 70 Jahren verheiratet«, sagt George Shultz. Vor sechzehn Jahren ist sie an Krebs gestorben, auch der Ehemann seiner heutigen Frau Charlotte starb daran. »Also haben wir beide geheiratet«, sagt Shultz.
Strahlend betritt Charlotte Shultz bei unserer Begegnung in Berlin den Raum. Sie war Protokollchefin des Bundesstaates Kalifornien, als dort Arnold Schwarzenegger Gouverneur war. Die Ehefrauen, sagt Helmut Schmidt, hätten in der Freundschaft der vier »eine gewisse Rolle« gespielt. Nancy Kissinger sei »eine politisch interessierte und kluge, aber sich zurückhaltend äußernde Frau. Die zweite Frau Shultz redet gern, denn sie ist voller Impulse.«
Die Atmosphäre sei eine ganz andere, wenn die Frauen dabei seien, aber es werde wiederum über Politik geredet. Worüber noch? »Über das Alter, über Demenz im Alter, über die Welt und den lieben Gott!«
So wie voriges Jahr in New York. Man traf sich im Waldorf Astoria. »Das waren zwei verschiedene Treffen«, sagt Helmut Schmidt. »Einmal mehrere Stunden Shultz, Kissinger und Schmidt allein. Und dann Abendessen der drei mit den beiden Ehefrauen – Ehefrau Shultz und Nancy.« Es sei der Besuch gewesen, mit dem er Abschied von Amerika genommen habe. Schmidt zieht vergnügt an seiner Zigarette: »Inzwischen leb ich aber noch!«
Noch einmal nach Amerika? »Nee!« Und wenn ein Freund ihn braucht? »Ich würde das nicht ganz
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