Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
erstaunen, Harry, aber die Ausländer, die heute auf unserem Boden leben, haben weniger Kinder als ihre Eltern. Das geht ziemlich schnell.
LEE Aber mehr als die Deutschen.
SCHMIDT Das stimmt, aber in einer halben Generation, vielleicht in fünfzehn Jahren, wird sich auch dies geändert haben.
LEE Und bis dahin werden immer neue Einwanderer hinzukommen, legale und illegale, denn sie wollen am deutschen Wohlstand teilhaben.
SCHMIDT Ich frage mich, ob wir sie alle willkommen heißen. In Singapur heißen Sie nicht jeden Fremden willkommen, sondern Sie suchen die Leute sorgfältig aus. Sie beurteilen sie nach ihren Fähigkeiten, und wenn jemand die Voraussetzungen nicht erfüllt …
LEE Aber wir sind eine Insel, also können wir unsere Grenzen kontrollieren. Sie haben Grenzen mit anderen Ländern, sehr lange Grenzen.
SCHMIDT Das ist unser bitteres Schicksal (beide lachen).
LEE Ich sehe darin eines der großen Probleme der Welt in den kommenden Jahrzehnten.
SCHMIDT Ich stimme Ihnen zu.
SCHMIDT Haben schon jemals ein Singapurer und ein Hamburger zusammen ein Buch veröffentlicht?
LEE (lacht) Nein, bisher noch nicht.
SCHMIDT Es ist also das erste Mal. Es wird Aufsehen erregen.
LEE Wir werden es versuchen. Wir müssen Aufsehen erregen, um gehört zu werden.
SCHMIDT Was Ihre Position angeht, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie positiv wahrgenommen werden wird. Meinen Anteil wird man als zu pessimistisch betrachten. Das ist der Altersunterschied zwischen Ihnen und mir; obwohl es nur vier Jahre sind, bin ich pessimistischer als Sie. – Was uns noch fehlt, ist ein zündender Titel. Wir müssen nicht jetzt gleich über den Titel entscheiden, aber wir könnten ein paar Minuten darüber nachdenken.
LEE Er muss die Grundidee unseres Gespräches enthalten, die Welt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu sehen: der deutschen und der Singapurer. Und er muss andeuten, dass wir trotz der verschiedenen Blickwinkel in vielen Fragen übereinstimmen, in anderen unterschiedlicher Meinung sind, die meisten Fragen aber auf gleiche Weise sehen. Im Kern unseres Gespräches ging es darum, wie wir uns im Zuge der globalen Veränderungen verändert haben und wie sich unsere Völker verändert haben. Wenn Sie jetzt nach China reisen und dieses Gespräch mit Zhu Rongji führen …
SCHMIDT Es wird eine sehr freundschaftliche Begegnung sein. Und es gibt ein Konzert mit Künstlern der Pekingoper.
LEE Ja. Außerdem haben Sie einen Dolmetscher. Sie können keinen wirklichen Gedankenaustausch erwarten.
SCHMIDT Nein. Aber Zhu Rongji hat Deng Xiaopings Linien mit großem Erfolg fortgeführt.
LEE Er wird Sie nicht provozieren wollen, sondern Ihre Auffassungen unwidersprochen lassen, und wenn Sie seine Ansichten hören wollen, wird er sie Ihnen darlegen. Aber er wird sie Ihnen nicht aufdrängen.
SCHMIDT Mochten Sie ihn zu seiner Zeit?
LEE Ja, ich fand ihn sehr geradeheraus. Er äußert sich unverblümt und klebt nicht am vorbereiteten Text.
SCHMIDT Ich finde, wir haben eine gute Grundlage für unser gemeinsames Buch gelegt.
LEE Ich bin sehr zufrieden damit. Mir fehlt die Kraft, stundenlang zu schreiben. Dafür braucht man Konzentration, physisches Stehvermögen.
SCHMIDT Ja. Andererseits hält es einen am Leben.
LEE (lacht) Darüber ließe sich streiten.
SCHMIDT Ich halte es für wahr.
LEE Schreiben hält den Geist am Leben.
SCHMIDT Ja, es hält den Geist am Leben. Und Zigaretten! (Beide lachen.) Die halten meinen Geist auch am Leben. Aber der übrige Körper versagt.
LEE Das ist unvermeidlich. Es ist ein Naturgesetz, das man nicht brechen kann. Jeder muss sich an dieses Gesetz halten.
SCHMIDT Ja.
LEE Unsere Gene sind darauf programmiert, eine gewisse Zeit durchzuhalten, und jenseits eines bestimmten Verfallsdatums erneuern sich die Zellen nicht mehr richtig.
SCHMIDT Harry, dies ist mein letzter Besuch in diesem Teil der Welt. Ich werde keine so langen Reisen mehr unternehmen.
LEE Aber bleiben Sie uns noch lange erhalten. Ich wünsche Ihnen Gesundheit und ein erfülltes, befriedigendes Leben.
SCHMIDT Und ich wünsche Ihnen alles Gute.
LEE Es ist mir ein Vergnügen und eine Ehre, Sie zu kennen.
SCHMIDT Auch mir ist es ein großes Vergnügen und eine Ehre. Ich muss sagen, dass ich Ihnen sehr dankbar bin, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Harry. Ich werde nicht noch einmal herkommen. Ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen.
LEE Und ich bin froh, dass ich Sie empfangen konnte. – Jetzt müssen wir vor die Presse. Man
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