Ein letzter Brief von dir (German Edition)
manchmal erinnerte sich Orla so lebhaft an ihren Vater, dass sie wieder seinen Pfeifenrauch in der Nase hatte und sein freudiges Glucksen hörte. Einen solchen sensorischen Flashback hatte sie nun, als sie vor dem Postschalter in der Schlange stand, um die letzten Geschenke nach Hause abzuschicken.
Pa war noch mehr als Ma ein sicherer Hafen gewesen. Orlas Mutter war der Ansicht, dass Kinder in Gesellschaft den Mund aufmachen sollten. Wenn furchteinflößende Verwandte zu Besuch kamen, hatte sie sie stets nach vorn geschubst. Pa hingegen erlaubte seiner jüngsten Tochter, sich hinter seinen Beinen zu verstecken, wo sie in Sicherheit war vor den Erwachsenen und ihren endlosen Fragen nach ihrem Alter und ihrem Lieblingsfach, und war sie ihrer Mummy nicht wie aus dem Gesicht geschnitten? Pa hatte Verständnis. Orlas Schüchternheit war einfach ein Teil ihres Wesens für ihn gewesen, nicht etwas, das korrigiert werden musste.
Und so plötzlich, wie sie Pa gespürt hatte, verschwand er wieder und ließ Orla mit Tränen in den Augen zurück. Ein Papakind ohne Papa.
Orla riss sich zusammen und blickte sich um. Vielleicht sollten sie Maudes Konfrontationstherapie mit einem Gang zur Post beginnen. Der kleine Schalter stand in der chaotischen Ecke eines Gemischtwarenladens, der heimelig roch, nach Mittagessen und nach Menschen. Und er war nur zwei Minuten von der Buchhandlung entfernt.
Ein kleines Paket fiel ihr vom Stapel, und sie bückte sich, um es aufzuheben. Seine Größe und Form ließen darauf schließen, dass es sich um die Enid-Blyton-Bücher für ihre Nichte Niamh handelte. Diese Nachzügler würden vermutlich nicht mehr rechtzeitig ankommen, aber Orla konnte es nicht ertragen, jemanden auszulassen. In Tobercree hatte sich herumgesprochen, dass Orla Weihnachten nicht nach Hause käme, aber ihr «Keine Geschenke, bitte!» hatte sich offenbar nicht herumgesprochen. Jeden Morgen kamen neue braune Päckchen an, aus denen sie am Weihnachtsmorgen vermutlich einen Berg von Motiv-Hausschuhen und Talkumpuder ans Tageslicht befördern würde.
Die Cassidys hielten nichts von Minimalismus, besonders nicht an Weihnachten.
Die Schlange rückte auf, als sich der vorderste Kunde vom Schalter abwandte. Schmal, aber aufrecht, in einem völlig faltenfreien Regenmantel, ging George an ihr vorbei.
Orla streckte die Hand aus, und er hielt inne. Bei seinem Lächeln vertieften sich die Falten um seine blassen Augen.
«Guten Tag!», sagte er.
Er roch nach Pfeifenrauch. Wie Pa Cassidy. «Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, George? Ich bin übrigens Orla.»
«Ich fand, Sie verdienen eine Erklärung.» Orla ließ Georges Gesicht nicht aus den Augen, während er ihre Geschichte verdaute. «Es war nicht die echte Maude, die Sie so angegiftet hat.»
«Ich war auch recht überrascht.» George war so vornehm wie sein Aufzug. «Ich bewundere die Dame außerordentlich.»
«Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Sie vermisst Ihre Besuche.» Gut, dass Maude sie nicht hören konnte, dachte Orla, sonst würde die Dame ihr mit dem Nudelholz eins überziehen.
«Ist das wahr?» George presste die Lippen aufeinander. «Dann ist das alles wirklich sehr schade, Rola.»
Es hatte keinen Zweck, ihn erneut zu korrigieren. Er hatte sie auch schon Oola und Only genannt. «Das stimmt. Aber es gibt Hoffnung. Haben Sie je von Konfrontationstherapie gehört?»
Das hatte er nicht, was wenig überraschend war. Orla klärte ihn auf und bemerkte dabei seinen gequälten Gesichtsausdruck, als hätte er etwas gesehen, was er nicht sehen sollte, wie einen Unterhosenblitzer oder einen BH -Träger.
«Geht mich das wirklich etwas an?»
«Ja», sagte Orla nachdrücklich. «Denn Sie könnten Maude helfen.» Sie sprach weiter, unbeirrt von seinem leicht widerwilligen Gesicht. «Wenn ich es geschafft habe, sie zu einigen kurzen Ausflügen zu bewegen, vielleicht könnten Sie sie dann erneut zum Abendessen einladen? Oder zu einem Spaziergang? Das könnte ein Anreiz sein.»
«Aber was hat das mit mir zu tun?» George wirkte erzürnt, kramte ein paar Münzen aus der Tasche und bildete damit ein Häuflein auf dem Tisch. «Es tut mir leid für Ihre Freundin, wirklich sehr leid, aber wissen Sie, darüber zu reden, das gehört sich nicht.» Er stand auf und zog den Gürtel seines Mantels noch enger. «Ich wünsche Maude alles Gute, aber ich habe meine eigenen Probleme», sagte er und fügte hinzu: «Auf Wiedersehen, Nylon.»
Sims Tagebuch
27 . November 2011
O hat
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