Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Bogna deutete auf die neblige Straße hinaus. «Da ist George.»
George eilte vorbei und tippte sich in Richtung des hell erleuchteten Geschäfts an den Hut, eine Geste, die sich an keine der Frauen insbesondere richtete.
«Warum kommt er nicht mehr?» Bogna blickte seinem Rücken wütend hinterher. «Blöder alter Sack.»
«Ich habe ihn vergrault. Es ist meine Schuld, nicht Georges.» Maude sah ihm ebenfalls nach. «Nenn ihn nicht so, Liebes.»
«Aber er ist alter Sack», beharrte Bogna.
Im Stillen stimmte Orla ihr zu.
Kapitel neunundzwanzig
I hre winzige Wohnung fühlte sich vollgestopft an, als wären Hunderte von Leuten zugegen, und dabei waren sie nur zu viert.
Mit der Dekadenz vorrevolutionärer russischer Aristokraten tranken sie Champagner zum Frühstück. Die weihnachtliche Brille ließ alles riesiger, glänzender, funkelnder wirken. Auf jeder Oberfläche stand etwas zu essen, jede Hand hielt ein Glas, und der Raum war von übersprudelnder guter Laune erfüllt.
Marek sang mit seinem Bariton schief bei den Weihnachtsliedern im Radio mit. Über seinem schokoladenbraunen Kaschmirpulli trug er eine blütenweiße Schürze. Sogar mit Schürze sah Marek umwerfend aus, als würde er gleich auf sein Pferd springen und zu einem Duell galoppieren. Vielleicht lag es an seinen Haaren. Orla war ein bisschen zu angetan von Mareks Haaren, es grenzte schon an Neid. Sie hingen ihm so lässig in die Augen, während ihre ein einziges Chaos waren.
Als sich ihre Augen trafen, durchzuckte Orla eine Aufregung, die nichts mit den Paketen unter dem winzigen Baum zu tun hatte.
Dieser Tag war ein Schritt in die richtige Richtung. Das Gefühl, das Orla in der National Gallery überkommen hatte, nun offiziell älter, reifer, nützlicher zu sein, hatte angehalten. Marek, der gerade über eine von Maudes absurden Geschichten aus voller Kehle lachte, brachte in ihr etwas Neues zum Vorschein, eine Seelentiefe, die sie in keiner Beziehung zuvor erreicht hatte. Sie hatte einen Gang hochgeschaltet.
Es war unmöglich, diesen frohen Gedanken zu denken, ohne sich an die beklagenswerte Schwäche zu erinnern, die all ihre Tugenden zu überlagern drohte. In ihrer Beziehung zu Sim war
er
das Problemkind gewesen. Orla hatte mit den Augen gerollt, den Kopf geschüttelt, ihm vergeben. Er hingegen war lasterhaft, arbeitsscheu, promi-verliebt, eitel und natürlich anbetungswürdig geblieben. Jetzt hatte Orla den Part der Schwierigen in der Beziehung, und die Rolle nutzte sich ab.
Zumal sich Marek des Problems gar nicht bewusst war. Sie ging an ihm vorbei, und er unterbrach sein Verquirlen, Schlagen, Würfeln und Fluchen, zog sie in eine ungestüme Umarmung und knabberte an ihrem Ohr. Ihr Kreischen entzückte ihn.
In ihrer himbeerroten Strickjacke mit Trompetenärmeln korrigierte Maude unermüdlich an der Tischdekoration herum. Sie faltete die Servietten neu, drehte den silbernen Kerzenständer, den sie ausgegraben hatte, so, dass er am besten zur Geltung kam, legte einen winzigen Weihnachtsstern auf jedes Gedeck. Die Sterne leuchteten rot auf der gestärkten weißen Leinentischdecke, die, es war kaum zu glauben, am Abend zuvor von Bogna gebügelt worden war.
Bogna hatte ihren Unwillen über den geänderten Veranstaltungsort lautstark geäußert und damit gedroht, das Mittagessen zu boykottieren, wenn es nicht bei Marek stattfand. «Wozu quetschen wir uns in eine beschissen kleine Wohnung, wenn du hast ein abgefahrenes Haus?», lautete ihre berechtigte Frage.
Mareks Antwort – «Wir essen bei Orla» – hatte so abschließend geklungen, dass sogar die streitlustige Bogna den Protest aufgegeben hatte. Orla hatte ihm nur deshalb von Maudes Agoraphobie erzählt, weil diese es unmöglich machte, Maude am ersten Weihnachtsfeiertag auszuführen. Er war auf anrührende Art schockiert gewesen und hatte sofort damit begonnen, die Logistik eines 3 -Gänge-Menüs mit Truthahn in Gedanken in Orlas winzige Küche zu verlegen.
«In Polen geht es Weihnachten darum, zusammen zu essen oder einander zu besuchen. Es geht um Familie, Freunde und Nachbarn», sagte Marek und rührte die Bratensauce mit Hingabe. «Geschenke sind bei uns nicht so wichtig wie in England und, ja, Orla, ja, wie in Irland auch. Ich brauche nicht noch eine Lektion über den Unabhängigkeitskrieg.»
Bogna blökte vom Sofa dazwischen: «Ha! Du machst ihr Angst, Marek! Jetzt denkt sie, dein Geschenk ist Mist.» Sie stürzte ihr Glas hinunter. «Champagner!», rief sie.
Marek atmete
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