Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Brokatkleids und ihrem blassen Beinahe-Lächeln. Die Königin hielt Blumen in ihrer weißen Hand, aber dem Museumsführer zufolge war der Strauß über eine zusammengerollte Schlange gemalt. Auf Junos ungeduldiges «Komm jetzt, du lahme Ente!» hin war Orla widerwillig weitergegangen. Es berührte sie, dass sie etwas mit einer Monarchin gemein hatte, die vor sechshundert Jahren geboren worden war. Das gab Orla die Hoffnung, dass auch sie mit einem Blumenstrauß ihre persönlichen Schlangen überlagern konnte.
Orla hatte in den Gesichtern der Frauen an den hohen Wänden vieles entdeckt, das sie nachfühlen konnte. Sie sah Stress und Anstrengung und die Last des Wartens, des Verlusts. Bis zu diesem Jahr war Orla jugendlich gewesen, trotz ihres Abschlusses, ihres verantwortungsvollen Jobs, der Hypothek. Es schien ein Glücksfall, dass sie bis in ihre Dreißiger hinein keinen echten Rückschlag hatte einstecken müssen. Sims Tod und die Nachwehen hatten sie für immer verändert. Sie wusste nun über Trauer Bescheid, und sie wusste, wie man sie überlebte. Sie verstand mehr; ihr Leiden hatte sie zu einem nützlicheren Menschen gemacht.
Als sie gerade eine Postkarte mit Iris Murdoch darauf bezahlte, ein Geschenk für Maude, die diese Autorin liebte, fiel Orla etwas ein.
«Juno, wie hast du es geschafft, Larry ein ganzes Wochenende lang allein zu lassen?»
«Ich besuche dich.» Juno zuckte mit den Schultern. «Es ist der einzige Grund, den er akzeptiert, wenn ich über Nacht fort sein will. Ich habe dich schon öfter besucht. Du hast mich darum
gebeten
.» Sie boxte gegen Orlas Arm. «Entschuldige, dass ich dich da reinziehe. Ich habe dich auch an dem Wochenende besucht, das ich mit Rob in Kerry verbracht habe. Das erste Mal, dass wir, du weißt schon.»
Orla hob abwehrend die Hand. «So viel wollte ich gar nicht wissen.»
«Aber ich habe doch auch versucht, dich zu besuchen, oder? Du warst nur so unnahbar. Ja, das ist das richtige Wort. Du warst unnahbar.» Juno sprach schnell weiter, bevor Orla ihren Gedanken formulieren konnte. «Es macht nichts. Du musst dich erholen. Und das musst du so tun, wie es gut für dich ist. Komm einfach irgendwann zurück zu mir, ja? Ich könnte dich brauchen. Ich könnte dich bald brauchen.»
An der Bushaltestelle trennten sie sich mit einer langen Umarmung. Juno las mit zusammengekniffenen Augen den Linienplan im Wartehäuschen, wie Orla es getan hatte, als sie neu in London gewesen war. Orla hoffte, die Affäre würde im Sande verlaufen, bevor sie rechts und links Opfer anhäufte.
Wer immer für die Dinge verantwortlich war – sei es Mas weißbärtiger Gott oder auch nur ein kleinerer Himmelsangestellter –, sein Timing machte Orla wütend. Ihre achtundvierzig Stunden mit Juno waren ein unerwarteter Leckerbissen, den er ihr zugeworfen hatte. Aber diese Stunden fielen auf dieselben zwei Tage, an denen Maude erstmals ihre Medikamente hätte nehmen sollen.
«Maudie …» Orla hielt Maude die ungeöffneten Fläschchen vor die Nase, als diese gerade in ihrem seltsam verwinkelten Schlafzimmer unter dem Dach die Bettdecke ausschüttelte.
«Falls du die Liste der Nebenwirkungen noch nicht gelesen hast», sagte Maude, und die Decke sank fett und weich auf das Bett, «kann ich sie dir gerne aufsagen. Übelkeit. Kopfschmerzen. Durchfall. Schwindel. Appetitverlust. Schwitzen. Schlaflosigkeit. Magenkrämpfe.» Sie schlug heftig auf ein Kissen ein. «Das ist nicht meine Vorstellung von einem angenehmen Leben.»
«Meine auch nicht», stimmte Orla ihr zu. «Aber die werden nicht alle eintreten. Vielleicht hast du gar keine Nebenwirkungen.»
«Und woher weiß ich das?» Maude fegte an Orla vorbei und zwang sie, zur Seite zu springen. Sie begann mit unnötigem Nachdruck in der Küche mit Pfannen zu klappern.
«Machst du wenigstens die Yoga-Atemübungen, die ich dir gezeigt habe?»
«Durch die Nase einatmen und durch den Mund wieder aus? Ja. Ich klinge wie ein Marathonläufer.»
«Gut. Wenn wir nämlich mit der Konfrontationstherapie anfangen …»
«Mit was?» Maude sah Orla an, als hätte sie ihr soeben bestialische Qualen in Aussicht gestellt.
Orla hatte vorgehabt, diese Idee behutsam einzuführen, und verfluchte ihren schweren Kopf. «Ich hab das recherchiert. Anscheinend ist es die erfolgreichste Therapie gegen Agoraphobie. Du bereitest dich darauf vor, indem du Techniken einübst, die dir bei den Angstattacken helfen. Zum Beispiel Atmen, Visualisierung und Meditation, was du
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