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Ein letzter Brief von dir (German Edition)

Ein letzter Brief von dir (German Edition)

Titel: Ein letzter Brief von dir (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Ashton
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gewusst hätten, dass es sein letztes Weihnachten würde, hätte Sim Lucys mütterlichen Daumenschrauben vielleicht mehr Widerstand entgegengesetzt, ihrem:
Nie bekommen wir dich zu Gesicht, Liebling, können wir dich nicht einmal für uns allein haben, nur dich, dieses eine Mal zum Mittagessen am Weihnachtstag?
    Mit Verspätung fiel der Groschen.
    Sein Protest gegen Lucys Egoismus war ihr die ganze Zeit lahm vorgekommen, und seine Enttäuschung darüber, nun das Mittagessen mit Orlas Familie zu verpassen, kam ihr gespielt vor. Ein Jahr später stieg nun die faulige, widerliche Wahrheit an die Oberfläche.
    Als Sim an Heiligabend eine Stunde später als vereinbart bei Orla eintraf, war er direkt von Anthea gekommen.
    Es hätte nicht so weh tun dürfen.
    Aber an Weihnachten!
Schon wieder wurde Orla überschwemmt von Gefühlen, mit denen sie sich an niemanden wenden konnte. Da war niemand, den sie anschreien, niemand, den sie schütteln und fragen konnte:
Wieso hast du mir das angetan
?
    Und schon war sie in Sibirien, wo es kalt war und das Klima ihr besser entsprach.
     
    Die Madonna mit Kind auf hochwertigem Papier war der bei weitem geschmackvollste Weihnachtsgruß in Orlas Sammelsurium. Sie stellte Reeces Karte neben Mas grellbunten Christus mit den blauen Augen und dem blonden Bart, Junos nackten Nikolaus und Niamhs selbst gebastelte Pop-up-Karte. Nach kurzem Zögern rückte sie Reeces Karte vor das traditionelle Familienfoto ihres Bruders Hugh. So viele Zahnspangen und Brillen und fette Knie sahen einfach nicht feierlich aus.
    «Frohe Weihnachten wünschen Reece Dodds Artists», lautete der gedruckte Gruß. Er hatte eine persönliche Nachricht dazugekritzelt.
Ich hoffe, es ist alles gut. Ich bin da, wenn du mich brauchst.
    Orla nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Juno an ihrer Stelle würde die Karte wegwerfen, weil sie die harmlosen Worte manipulativ und herablassend fände. Doch Orlas Beziehung zu Reece war vielschichtiger und schwerer zu analysieren.
    Das bedeutete nicht, dass sie Lust hatte, mit ihm zu sprechen. Im Augenblick war sie zufrieden damit, ihn sich auf Armeslänge vom Leib zu halten. Sie entdeckte ein kleineres, verwischtes und kaum lesbares PS in der Ecke.
    Ich habe ein Geschenk für dich. Hoffe, das ist in Ordnung. Über die Feiertage werde ich wegfahren (zum Glück), ich melde mich im neuen Jahr. X
    Orla nahm sich vor, ihm eine Antwortkarte zu schreiben.
     
    Lametta hing von der Deckenlampe des Klassenzimmers. Manche ihrer Studenten waren schon vor dem letzten Tag des Trimesters nach Hause geflogen. Orla hatte Mitleid mit Abena, als diese in Tränen ausbrach, weil sie dieses Jahr an Weihnachten nicht wie sonst gebratene Ziege essen konnte, und sie lud sie zu sich in die Ladbroke Grove ein.
    «Sie sind wirklich nett, aber ich gehe zu Sanae. Sie backt Kuchen. Ich werde viel weinen, aber sie sagt, das macht ihr nichts aus.»
    Japanischer Weihnachtskuchen klang einladender als das gehaltvolle, duftende Ungetüm, das jährlich finster auf Mas Anrichte thronte. Sanae zufolge bestand er aus hellem Biskuit, behäuft mit Erdbeeren und Sahne. Wenn Natalya nostalgisch von Polen erzählte, hatte Orla die zwölf Gänge und die Kerzen in dem dunklen Raum bildlich vor Augen, die an den Stern von Bethlehem erinnerten und den mystischen, symbolischen Charakter des Mahls betonten. Für Orlas Gaumen jedoch klang die Mahlzeit zu heringslastig, und so war sie erleichtert gewesen, als Marek vorgeschlagen hatte, ein britisches Weihnachtsessen zu kochen.
     
    «Ich weiß, was Marek dir zu Weihnachten schenkt!», sang Bogna triumphierend.
    «Und ich werde es auch wissen, wenn ich es an Weihnachten auspacke.» Orla war keine Schnüfflerin, sie hatte nie verstanden, warum Deirdre alljährlich in den Tagen vor Weihnachten auf dem Schrankboden ihrer Eltern herumgewühlt hatte. Sie zog es vor, geduldig zu warten und die Vorfreude zu genießen. Genau so, wie sie stets ihr Gemüse zuerst aufaß und immer artig «vielen Dank» sagte. Wenn Orla eine Freundin ihrer selbst wäre, würde sie sich auf die Nerven gehen.
    Es war der letzte Samstag vor Weihnachten, und die drei Musketiere von Maude’s Books standen herum und erwarteten den Weihnachtsansturm.
    «Seht ihr?», sagte die Eigentümerin stolz, als ein Mann eintrat und «Die gesammelten Abenteuer von Peter Hase» kaufte, gefolgt von einer älteren Dame, die alle drei vorrätigen Barbara Cartlands erstand. «Hab ich es euch doch gesagt.»
    «Schau mal!»

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