Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Reece sah Orlas Gesichtsausdruck und wirkte betroffen. «Tut mir leid. Ich bin eben einfach immer noch der kleine Junge, der auf eine öffentliche Schule geht.»
«Du siehst erschöpft aus», sagte Marek, noch bevor er sie erreicht hatte. «Geht es dir gut?» Er legte ihr die Hand auf die Stirn, eine merkwürdig mütterliche Geste für einen großen, markigen Mann im Smoking.
«Mir geht es großartig», lächelte Orla und nahm seinen Arm. Kurz stellte sie sich vor, wie sie von außen wirken mussten: ein hübsches Paar. «Danke noch mal», sagte sie zu Reece, «für die Einladung.»
Kapitel vierzehn
D ie Aussicht war der ganze Stolz des Hotels, und das zu Recht.
Langsam und beinahe schüchtern hatte sich eine ungeordnete Reihe von Bäumen im tiefen Tal aus der Dunkelheit geschält. Nach den paar Stunden, die sie, nur in den Hotelbademantel gehüllt, im Liegestuhl verbracht hatte, kannte Orla die Umrisse der Bäume so gut wie die Aussicht aus ihrem Schlafzimmer in Tobercree.
Die Veranda lag auf der Rückseite des Inns und war von allen Zimmern im Erdgeschoss aus zugänglich. Die Terrassentür nebenan gehörte zu Mareks Zimmer. Das Licht, das zwischen den Vorhängen nach draußen drang, war um etwa zwei Uhr nachts erloschen. Der unsichtbare Faden zwischen der Gestalt im Liegestuhl und der verschlossenen Tür, der bis dahin recht straff gespannt war, hatte sich gelockert.
Der schwachviolette Nebel löste sich auf: Der Tag würde heiter und klar werden.
Auf der Fahrt zum Hotel hatten sie kaum miteinander gesprochen. Jeder hatte aus seinem Fenster geschaut, während das Taxi durch eine Reihe von Schlaglöchern gerumpelt war. Ihre Hand hatte geschlossen neben ihr auf dem Sitz gelegen, und Marek hatte seine daraufgelegt, zärtlich wie der Nebel, der die Bäume einhüllte. Orla erinnerte sich mit einem wohligen Schauer daran, wie zart seine starken Finger die ihren berührt hatten.
Die Luft im Taxi war stickiger geworden, als sie spürte, dass er Katz und Maus mit ihr spielte und wartete, ob sie die Hand wegziehen würde oder nicht. Orla hatte ihre Hand liegen lassen. Es hatte sich tröstlich und sicher angefühlt, fast so wie damals, als ihr Vater ihre kleine Pfote in seine große nahm, wenn sie sich auf den Weg zur Messe machten. Er hatte sie immer spüren lassen, dass sie sein Lieblingskind war.
In der anderen Hand jedoch hielt sie fest umschlossen die Valentinskarte.
Es war ganz leicht gewesen. Der Umschlag war ja bereits geöffnet gewesen. Als ihr auf der Party plötzlich klargeworden war, dass sie die Karte tatsächlich lesen wollte – aber allein –, hatte sie sie einfach aus ihrer rosafarbenen Hülle genommen. Nur das Drumherum war in Flammen aufgegangen.
Sie hoffte sehr, das würde als weiße Lüge durchgehen.
Im Hotelflur vor ihrer Tür hatte Marek schließlich das Schweigen gebrochen, um ihr höflich eine gute Nacht zu wünschen. Er ging zu seinem eigenen Zimmer, machte dann aber noch einmal kehrt, um sie sehr heftig auf die Lippen zu küssen. Das war ganz anders als die zarte Berührung des Nebels: Als er sich abrupt von ihr losriss, wirkte Marek ganz verstört, beinahe wütend.
«Das musste ich tun», sagte er, marschierte in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Orla hoffte, dass er inzwischen schlief. Hoffentlich schliefen alle in diesem Winkel Englands. Denn sie würde jetzt ihr letztes Gespräch mit Sim führen.
Kein Trommelwirbel. Kein Zeremonienmeister, der um Ruhe bittet. Nur die erwachenden Vögel in der Umgebung würden zwitschern, wenn all das Rätseln ein Ende haben und sie ihm ihre Antwort geben würde.
Ja.
Orla drehte die Valentinskarte auf ihrem Schoß um. Auf der Vorderseite sah man eine Strichzeichnung. Ein schlichtes, ausgefranstes Kohleherz, schwarz auf weiß. Sehr einfach. Ganz anders als alles, was er bis dahin geschickt hatte.
«Du bist immer noch für eine Überraschung gut», sagte sie liebevoll. «Tut mir leid wegen dieser Sache auf der Party. Ich hatte das Gefühl, Reece irgendwie zufriedenstellen zu müssen. Er hat sich so viel Mühe gegeben und so viele Sorgen gemacht. Außerdem musste ich ihn irgendwie loswerden. Oh, ich weiß, wie sehr du ihn gemocht hast, Sim, ich mag ihn ja auch, aber wenn er gewusst hätte, dass ich die Karte lesen wollte, hätte er mich nicht mehr in Ruhe gelassen.
Erinnerst du dich, dass du mal gesagt hast, er wäre wie eine Glucke? Also, ich brauche keine Glucke für dies hier. Das hier geht nur uns beide etwas an. Uns beide»,
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