Ein letzter Brief von dir (German Edition)
etwas, oder es bedeutet gar nichts. Ich glaube nicht, dass letzte Nacht gar nichts bedeutet.»
«Es tut mir leid», sagte sie.
«Ist das ein Abschied?» Marek behielt die Tasche in der Hand und ließ sie sie nicht nehmen.
«Nein, es ist eine Entschuldigung. Ich lasse dich ganz schön nach meiner Pfeife tanzen.»
«Ich tanze gern.» Marek reichte ihr die Tasche. «Quatsch», fügte er dann hinzu. «Eigentlich tanze ich nicht gern. Aber, weißt du, mit dir würde ich tanzen, wenn ich es müsste.»
Orla winkte ihm hinterher, dankbar, dass er nicht mit hochkommen wollte. Gleichzeitig tat es ihr leid, dass er ging.
So winzig, wie sie war, hielt Maude sie doch mit erstaunlicher Kraft fest. Orla saß auf dem Sofa und weinte. Zwischen den Schluchzern stieß sie die Geschichte hervor.
«Ist ja schon gut.» Maude wiegte sie vor und zurück, und der Sonntag verging unter Schniefen und Heulen, bis die Tränen endlich versiegten.
Maude zündete Kerzen an und brachte Wein und Häppchen. Beides stellte sie auf den Couchtisch.
«Ich hab keinen Appetit», sagte Orla und stopfte sich ein Schinkensandwich in den Mund.
«Gerade, als du über den Berg warst …», murmelte Maude. «Am liebsten würde ich mir den Jungen mal vorknöpfen.»
«Er war kein Junge, er war ein erwachsener Mann.» Orla redete mit vollem Mund, sodass sich Generationen von Cassidy-Frauen im Grab umdrehen mussten.
«Ich kann immer noch nicht glauben, dass er …»
«Glaub es lieber, Maude.» Orla erstickte jeden Versuch ihrer Vermieterin im Keim, die Vergangenheit zu schönen. «Er hat mich verlassen. Und es mir mit einer Valentinskarte gesagt.»
«Ich wusste ja, dass er seine Fehler hatte, aber …»
Orla unterbrach sie erneut, um einen plötzlichen und sehr unangenehmen Gedanken auszusprechen. «Hast du es gewusst, Maude? Dass er eine andere hatte?» Orla bebte fast in der Hoffnung, Maude würde den Kopf schütteln.
Aber Maude atmete tief durch und sammelte sich, bevor sie sagte: «Ich wusste, dass etwas vor sich ging, aber ich wusste nicht, dass es
das
war. Er hat sich so geheimnistuerisch benommen. War plötzlich verschlossen. Und die Trinkerei …»
«Aber von
ihr
wusstest du nichts?»
«Nein, Liebes, ich wusste nichts von diesem Flittchen, wer auch immer sie ist», antwortete Maude bestimmt. Sie klemmte eine vorwitzige weiße Strähne hinter ihr Ohr, und Orla bemerkte, dass ihr Ohrläppchen hing. Sie hasste es, neue Alterserscheinungen an Maude zu erkennen. Maude sollte ewig leben.
«Machst du Witze? Du weißt nicht, wer …» Orla prustete in ihren Wein. «Es war Anthea. Er hat mich für Anthea Blake verlassen. Diese Schlampe. Diese verdammte Schlampe.» Sie schloss die Augen, legte die Hand an die Stirn und stöhnte.
«Wir wollen dir mal ein
verdammt
erlauben, aber dann reicht’s auch», sagte Maude ruhig und tätschelte ihren Oberschenkel. «Früh ins Bett oder die Nacht durchmachen? Du darfst aussuchen, Liebes.»
Ein Blick auf Maudes rot geränderte Augen ließ Orla schnell entscheiden. «Früh ins Bett, bitte, Maudie.»
Die Schlaflosigkeit, ihre alte Feindin, kehrte im Triumphzug zurück. Orla sah sich schon in qualvoll durchwachten Nächten über der grauenvollen Wahrheit brüten. Sie lag auf dem Sofa und starrte auf den stumm gestellten Fernseher, in dem das Frühstücksfernsehen lief. Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis.
Sie hatte vollkommen falschgelegen. Die zentrale Wahrheit ihres Lebens war eine Lüge. Sie hatte an Sims Liebe mit derselben Überzeugung geglaubt, wie sie sicher war, dass zwei plus zwei vier ergibt – diese Liebe
war
einfach. Sie hatte weiter daran geglaubt, und erst jetzt begriff sie, wie sicher sie sich ihrer gewesen war, auch noch nach seinem Tod.
Lucy hatte recht gehabt, sie auf der Beerdigung in ihre Schranken zu verweisen. Orla war nicht Sims Freundin gewesen. Es war nicht der Tod gewesen, der sie voneinander geschieden hatte, sondern eine andere Frau.
Manche Katastrophen werden kleiner, wenn man sich ihrer bewusst wird.
Morgen sieht alles ganz anders aus
, pflegte ihre Ma zu sagen, aber je länger Orla über Sims Geständnis nachdachte, desto schlimmer wurde es. Ihre Gefühle mussten eine Rolle rückwärts machen, und das auf engstem Raum. Sim zu lieben war jetzt vollkommen überflüssig geworden.
Die Erkenntnis seiner Affäre kam begleitet von riesigen Wissenslücken. Leerstellen, die sie quälten. Wann hatte das begonnen? War es nur ein aus dem Ruder geratenes Techtelmechtel
Weitere Kostenlose Bücher