Ein letzter Brief von dir (German Edition)
gewesen? Oder war es Liebe, unaufhaltsam, so wie das, was sie selbst mit ihm gehabt zu haben glaubte? Zeiten, Orte, Verabredungen. Orla suchte besessen nach Einzelheiten. Aber sie konnte niemanden fragen.
Es wurde kalt im Zimmer, und Orla schleppte sich zum Bett. Auf dem Weg dorthin warf sie einen kurzen Blick durch die Vorhänge auf die Plakatwand gegenüber. Eine Fiat-Werbung, deren grelle Farbigkeit vom kalten Morgenlicht gedämpft wurde, thronte über der Straße. Sim war fort.
Sims Tagebuch
14 . Oktober 2011
Ich wandte mich um und sah diesen Blick. Es war ein heimlicher Blick, einer, den ich nicht hatte bemerken sollen.
Wenn ich ihn doch nur nicht gesehen hätte. Meine ganze Zukunft lag darin. In diesen ausdrucksstarken, wunderschönen, einsamen Augen sah ich die Ruinen meines jetzigen Lebens.
In diesem Business können sich die beneideten, vergötterten und selbstsicheren Menschen durch einen einzigen Blick verraten. In diesem Moment sind sie verletzlich. In diesem Moment ist man verloren.
Wenn ich mich doch nur nicht umgedreht hätte.
Habe O heute Abend nicht angerufen.
Kapitel sechzehn
D ie Klasse war sehr ruhig. Ihre Lehrerin war in merkwürdiger Stimmung, und die Schüler fühlten sich verlassen, wie Küken ohne Mutter, und wagten es kaum, die Hand zu heben, um Fragen zu beantworten oder welche zu stellen.
Abena, die als Letzte ihren Hausaufgabenzettel in Empfang nahm, fragte mit einem besorgten Unterton: «Ist am Wochenende irgendetwas passiert, Orla?»
Sie sprach ihren Namen langgezogen aus, und es klang zauberhaft. Zu Beginn langsam, dann ein Bruch in der Mitte: Or
la
.
«Nein, gar nichts.» Orla fühlte sich spröde, genau wie gewisse Tanten daheim in Tobercree, die sofort allen Sauerstoff absaugten, sobald sie auf einem Familientreffen erschienen. «Ich bin nur ein bisschen unpässlich. Das bedeutet, dass man sich nicht so gut fühlt, ein bisschen niedergeschlagen.»
«Ah.» Abena tätschelte mütterlich Orlas Schulter, obwohl sie gute zehn Jahre jünger war als sie. «Sanae sagt, es ist Liebeskummer. Aber ich weiß, dass du zu schlau dafür bist.» Sie kicherte noch, als sie durch die Tür ging. Dann herrschte Stille im Klassenraum.
Orlas Füße trugen sie wie von selbst zur Piccadilly Line statt zur Circle Line. Das Straßengewirr von Soho war schier undurchdringlich, und sie war schon kurz davor aufzugeben, als sie endlich die Adresse fand, das enge Treppenhaus hoch zu einem Büroraum über einem Restaurant stieg und sich der Empfangsdame als eine «Freundin» vorstellte.
«Orla!» Reeces Büro war hübsch, die vertäfelten Wände gepflastert mit Filmplakaten, Theaterprogrammen und einer gerahmten Bildergalerie seiner Klienten. Er stand hinter seinem Schreibtisch auf, einem hellen, hölzernen Ungetüm, das fast unter einem Gebirge von Papieren verschwand. Orla war sich sicher, dass er genau wusste, welches Manuskript sich wo befand. «Schätzchen, wie schön!»
«Du wusstest es.» Orla baute sich wie eine Superheldin vor seinem Schreibtisch auf, breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt.
«Was?» Reece sah sie fragend an. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hielt er das für einen Scherz.
«Dass Sim eine Affäre hatte.»
Es war eindeutig, dass Reece mit sich rang, bevor er sich gegen den verständnislosen Gesichtsausdruck entschied. Schicksalsergeben, ja sogar traurig ging er zu dem olivgrünen Sofa und ließ sich schwer darauffallen. «Setz dich zu mir, Schätzchen. Erzähl mir, was du gehört hast.»
«Was ich
gelesen
habe.» Ihr Gesicht fühlte sich ganz heiß an, aber ihre Worte klangen kühl. «Ich habe die Valentinskarte nicht verbrannt.» Sie bemerkte Reeces Überraschung und fuhr fort, bevor er etwas sagen konnte.
«Es steht alles da, in Sims eigenen Worten. Und du wusstest es und hast mir nichts davon gesagt.»
«Hey, Orla. Wirf jetzt nicht mit Anklagen um dich. Setz dich erst einmal hin.» Reece klopfte auf den Sitz neben sich. «Na, komm schon.»
Orla wusste, wie es sich anfühlte, neben Reece zu sitzen, wie sicher man sich neben einem solch scharfen Wachhund fühlte, aber sie setzte sich nicht.
«Er hat mich verlassen, Reece! Er hat mich verlassen für
die da
!» Sie zeigte auf das gerahmte Hochglanzfoto von Anthea an der Wand.
«Was?» Reece rollte mit den Augen. «Herrgott noch mal, du redest von
Ant
? Du glaubst, er hätte …»
«Ich weiß, dass er hat!» Orla begann auf und ab zu gehen. Sie verstand plötzlich, was pampige,
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