Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Collegeverwaltung für Laminat und Plastik verhöhnt. «Normalerweise sitzt du doch mitten im Getümmel.»
«Heute nicht.» Orla grinste ihn breit an, um ihr Desinteresse zu verbergen.
«Oh Mann», ächzte Cal und packte lustvoll einen Mars-Riegel aus, «gestern Abend war ich so was von dicht.»
Neunundneunzig Prozent seiner Geschichten begannen so und endeten damit, dass er mit einem Absperrkegel auf dem Kopf aus einem Taxi fiel.
«Wirklich?»
«Ja. Ich war total weggetreten. Bin in der Dönerbude eingeschlafen. Meine Kumpels haben mich mit Ketchup beschmiert. Als ich aufwachte, dachte ich, ich wäre erstochen worden. Ein Klassiker.»
«Ihr seid doch alle gaga.» Orla plauderte auf Autopilot. Ihre Gedanken waren bei ihrer Tasche, die außerhalb ihres Gesichtsfeldes neben dem Sessel zu pulsieren schien. «Dann musst du heute wohl früh ins Bett.»
«Mitnichten! Katerbier!» Cal hielt seinen Styroporbecher mit Kaffee hoch, als wolle er auf sein eigenes Draufgängertum anstoßen. Dann beschrieb er detailreich seinen Beitrag zum Sieg seines Teams vor dem großen Dönerbudenspaß.
Er leierte und leierte, Orla warf das ein oder andere «Oh!» und «Echt?» dazwischen. Sie rutschte auf ihrem Sessel herum und bildete sich ein, die Umrisse ihres iPads durch die Polsterung hindurch zu spüren – die Prinzessin auf der Erbse 2 . 0 .
«Also hast du ein Tor geschossen?»
«Na ja», Cals Mitleid mit ihrer niedlichen weiblichen Ignoranz mischte sich mit Rührung, «im Rugby nennen wir das einen ‹Versuch›.»
Als Cal von einer Kollegin zur Küchenzeile gerufen wurde, setzte sich Orla auf ihre Hände. Sobald sie allein war, umgab sie ein Nebel von Verlangen. Dass wie durch ein Wunder eine Antwort auf all ihre Fragen in Form des Tagebuchs existieren, sie es aber nicht in die Hände bekommen sollte, musste das Werk eines bösen Geistes sein, der Zugriff auf den Kontrollraum in Orlas Leben hatte.
Ohne sich ausdrücklich dazu entschieden zu haben, beugte sich Orla nach vorn und zog blitzschnell ihr iPad heraus. Geschickt und sehr zielgerichtet bediente sie das Gerät und versuchte ihr Versprechen gegenüber Marek zu verdrängen. Sie öffnete Twitter.
Ein fauler Morgen in den Blake Towers! Heute Abend Charity-Ball fürs Kinderhilfswerk. Eine Ehre, dabei zu sein!
Ein fauler Morgen? Orla glaubte Anthea gut genug zu kennen, um zu wissen, dass kein Morgen in den «Blake Towers» faul war. Sie stellte sich vor, wie die Urheberin dieses Twitter-Beitrags mit Reece telefonierte, sich wegen irgendwas beklagte, forderte und drängte, um ihn schließlich unter einer Lawine von Komplimenten zu ersticken.
Während sie sich von Link zu Link klickte, polierte Orla an ihrer Verteidigung herum und hoffte gleichzeitig, sie Marek gegenüber nicht zu brauchen.
Das macht jeder! Wirf einen Stein in eine Menge, und du wirst jemanden treffen, der fieberhaft den Status eines Ex-Freundes oder einer Ex-Freundin bei Facebook verfolgt, auf der Pinnwand eines Kollegen kryptische Nachrichten hinterlassen hat oder bei Tumblr Schnappschüsse von einer Party angesehen hat, auf die er nicht eingeladen war.
Das Internet bot einfach zu viele hervorragende Möglichkeiten, sich selbst zu schaden. Wieso sollte ausgerechnet Orla da widerstehen können?
Je öfter sie surfte, desto mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Orla irgendwann auf ein Juwel stoßen würde. Irgendwann würde sich in Antheas vollgestopftem Terminkalender eine Lücke auftun, in der sie bei keiner Premiere, Probe, Eröffnung, Charity-Veranstaltung, Geburtstagsparty oder Dinner-Verabredung mit jemandem war, der in Celebrity-Kreisen noch mehr zu sagen hatte als sie. Und dann konnte Orla sie ausfindig machen, ihre Anschuldigung loswerden, ihr Geständnis entgegennehmen und die Herausgabe des Tagebuchs fordern.
Reece war nicht der Einzige, der Skandale vermied. Orla wollte nicht, dass ihr Name in alle Ewigkeit mit Anthea Blake verbunden blieb. Da war das Internet praktisch: Es war wie ein dreister, furchtloser Privatdetektiv. Es würde Anthea beschatten und Orla verständigen, sobald der perfekte, diskrete Moment gekommen war, ihr gegenüberzutreten.
Bis dahin würde Orla einfach weiter an der Kruste kratzen, die sich über ihrem verletzten Selbstwertgefühl zu bilden versuchte. Sie würde das Gefühl des Beschmutztseins auf sich nehmen, das sie jedes Mal wie Kopfschmerzen piesackte, wenn sie Anthea durch das Internet hinterhergejagt war.
Plötzlich blieb ihr Blick an einem Artikel
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