Ein letzter Brief von dir (German Edition)
bevor sie den heiligen Sim erstmals kritisieren konnte.
Orla hatte an dem Abend überhaupt nicht vorgehabt, Marek Ma vorzustellen. Solche Dinge plante sie so sorgfältig wie ein Zoowärter, der verschämte Pandas zur Paarung bewegen wollte. Marek aber hatte mit den Lippen «Deine Mutter?» geformt und ihr einfach den Hörer aus der Hand genommen.
Orla war tausend Tode gestorben, als sie Mareks Antworten auf das Fragenbombardement ihrer Mutter gelauscht hatte. «Ja, einmal. Ich bin leider schon Witwer, Mrs. Cassidy … Ich bin ungefähr zehn Jahre älter als Ihre Tochter … Ich habe meine eigene Firma … Polen … Ja, ich bin katholisch … Vor über zwanzig Jahren …» Auf einmal sah er recht verblüfft aus, blieb aber bei der Stange. «Mein liebster Gewinnersong beim Eurovision Song Contest ist vermutlich
All Kinds of Everything
von Dana.»
«Ich mag deine
Ma
.» Marek dehnte das Wort extra lang und ließ Wasser in das Spülbecken laufen. «Sie ist eine richtige Mutter. Sie versucht nicht, deine Freundin zu sein. Jetzt muss ich nur noch Juney kennenlernen.»
«Juno», korrigierte Orla. «Sie hat viel um die Ohren mit ihrem kleinen Sohn.» Sie wich ihm aus, und Mareks Schweigen sagte ihr, dass er es bemerkte. Juno würde keinen Herzschlag zögern, sich Jack auf die Hüfte zu setzen und nach London zu fliegen, um Marek in Augenschein zu nehmen. Derzeit schien sie jedoch eigene Sorgen zu haben. In einem eiligen Skype-Gespräch beim Frühstück hatte Juno gesagt: «Du weißt, dass mich unsere Gespräche bei Verstand halten, oder? Du lässt mich nicht fallen, O, ja? Nicht mal, wenn ich etwas Schreckliches tue?»
Das Knistern von Orlas Toast unterbrach Junos Pathos. «Hast du jemanden umgebracht, Ju?»
«Noch nicht. Aber wenn Monsieur heute Abend noch mal vor den Nachrichten einschläft, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich vermisse es, dass du mir über die Schulter guckst. Du bist mein Gewissen.»
«Bin ich
nicht
», hatte Orla mit halb gespielter Empörung gerufen. «Du bist eine irische Katholikin und damit Besitzerin eines der höchstentwickelten Gewissen in der Geschichte der Menschheit. Du brauchst bestimmt nicht mich, um zu wissen, was richtig und was falsch ist.»
«Stimmt wohl.» Juno hatte elend geklungen.
Nun, in diesem perfekten Augenblick, mit einer zweiten Portion Brathühnchen vor sich und einem ansehnlichen, spülenden Mann nur wenige Schritte entfernt, murmelte Orla: «Vielleicht sollte ich sie bald mal besuchen.»
Aber Juno würde ihr sofort auf die Schliche kommen. Sie würde einen Blick auf sie werfen und
wissen
, dass Orla etwas Verbotenes plante.
Wieso brachte London die Leute dazu, Dinge zu tun, die sie vor denen verschweigen mussten, die sie am besten kannten?
Damals, als Orlas schlimmstes Laster das Fingernägelkauen gewesen war, war sie immer kichernd vor Ma weggerannt, wenn diese mit der Stop’n-Grow-Tinktur gekommen war.
Wenn wir erwachsen werden, dann wachsen auch unsere schlechten Angewohnheiten. Orlas Kollegen zerrissen sich zwanghaft die Mäuler: Das heißeste Thema im Lehrerzimmer war die knospende Liebschaft zwischen dem Hausmeister und der neuen Kollegin. Orla war damit beschäftigt, ihrer eigenen Sucht zu widerstehen, und überließ die anderen in den hufeisenförmig aufgestellten Sofas inmitten des Zimmers ihrem Klatsch. Auf einer kleinen Insel für eine einzelne Person, einem unbequemen Sessel neben der Heizung, der mit noppigem Material gepolstert war, zog sie die Beine unter ihren Körper. Neben dem Sessel döste ihr iPad in ihrer Tasche. Sie hatte Marek versprochen, es nicht anzurühren.
Cal war ein Naturbursche, das verrieten auf den ersten Blick seine roten Wangen und sein Oberkörper, dessen Ausmaße seinen maschinenwaschbaren Anzug beinahe sprengten. Dass er irische Vorfahren hatte, machte aus ihm und Orla natürliche Verbündete im Aufenthaltsraum, aber das war nicht der einzige Grund, aus dem er sich in dieser Mittagspause zu ihr gesellte. Wie das gesamte College wusste, war er in Orla verliebt, und ihr weiches Herz war der Hauptgrund dafür, dass sie ihn stets mit einem warmen Lächeln begrüßte, auch wenn er sie zu Tode langweilte. Cal liebte Rugby und Bier, und um diese Leidenschaften drehte sich beinahe jedes Gespräch mit ihm.
«Heute nicht gesellig?» Cal zog sich eines der niedrigen Sitzmodule heran, die in dem riesigen Zimmer wirkten wie Spielzeugmöbel. Die viktorianische Eleganz des großen Raumes wurde von der Vorliebe der
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