Ein letzter Brief von dir (German Edition)
würde.
Ihr virtueller Tag wurde immer besser: Nachdem sie der wenig belastbaren, beiläufigen Erwähnung gefolgt war, Anthea sei eine Sammlerin von wertvollen Teppichen, landete Orla auf genau der Einrichtungsseite, die sie eine Woche zuvor gefunden und wieder verloren hatte. Als Lektion aus der Frustration dieses Tages speicherte Orla nun all ihre Funde samt Querverweisen auf Sims Laptop, und zwar mit einer Akkuratesse, die ihre Studenten wiedererkannt hätten.
Es gab eine Galerie mit Fotos von acht Räumen: ein wahrlich reicher Fund. Das erste Bild –
Ms. Blakes elegantes Haus von außen
– gab sofort Informationen preis. Die Hausnummer, in solchen Artikeln normalerweise unkenntlich gemacht, war für jedermann gut sichtbar. Anthea wohnte in der Wie-auch-immer-Straße Nummer neunundvierzig.
Orla lehnte sich in ihr Sofa zurück und schlenderte gemächlich durch Antheas Wohnung.
Sie hatte eine Vorliebe für weihnachtliche Farben. All das Rot und Grün ließen das Haus stimmungsvoll und verführerisch wirken. Und dunkel: Bei manchen Bildern musste Orla die Augen zusammenkneifen, um die einzelnen Elemente des Dekors zu erkennen.
Es war ein Haus für die Nacht, theatralisch und doch schlicht. Ein Foto von Anthea auf der Treppe, auf dem sie einen verführerischen Blick über die Schulter zurückwarf, löste die Selbstkritik aus, die Orla bei solchen Streifzügen auflauerte:
Ich bin siebzehn Jahre jünger als sie, aber ich würde in einem Kleid mit V-Ausschnitt am Rücken nicht halb so gut aussehen
.
Ihr Telefon zirpte.
Marek
, dachte sie, und eine Wärme stieg in ihr auf, die von ihren Schuldgefühlen kaum beeinträchtigt wurde. Gott sei Dank, dachte sie, ist er nicht hier und sieht, was ich gerade mache.
Bin um die Ecke
Orla stöhnte leise auf.
Mach das Beste aus deinem geschenkten freien Tag und KOMM ZU MIR ! Ich füttere dich mit Rogaliki, bis du platzt. X
Natürlich, es ist Donnerstag. Marek aß jeden Donnerstag in dem polnischen Café zu Mittag. Orla liebte seine Verlässlichkeit, sie schwelgte darin. Sie tippte:
Bin in fünf Minuten da!
Aber die Worte fraßen sich selbst auf, bevor sie sie senden konnte. Buchstabe für Buchstabe verschwand, während Orla die Löschtaste drückte. Sie sah auf die Fotogalerie.
Und hier: Antheas Boudoir.
Würde so gern, muss aber arbeiten! Sorry! Später? Küssen und so? Xxx Vermisse dich
Das stimmte. Sie vermisste ihn wirklich. Orla hatte sich so säuberlich aufgespalten, dass sie Marek gleichzeitig vermissen und einem Treffen mit ihm ausweichen konnte. Genau so, wie sie die Dummheit des Cyber-Stalkings beklagen und ihm gleichzeitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit frönen konnte.
Schade. Ich KÖNNTE dich später küssen. Ich WERDE dich später küssen.
Antheas Schlafzimmer sprang ihr förmlich ins Gesicht. Orla hatte nicht daran gedacht, sich dagegen zu wappnen. Es war, das musste sie zugeben, die perfekte Umgebung für Sim. Sie stellte ihn sich nackt auf der seidenen chinesischen Tagesdecke vor, seinen aufreizenden Hintern glücklich unter den Goldsternen auf dem violetten Zeltdach.
Wenn sie sich alles tränenreich ausgemalt hatte, war Orla oft in dieses Schlafzimmer eingedrungen. Sie hatte jedoch nie das Dekor vor sich gesehen, denn sie zwang sich, zu beobachten, wie Sim Antheas Hals küsste und seine Lippen von dort hinunter zu ihren Schultern wanderten. (Sie kannte dieses Manöver gut.) Orla hatte deutlich Sims sanfte Seufzer und sein lustvolles Stöhnen gehört, seine freudige Überraschung gesehen, als Anthea sich niederbeugte und eine Spur von Küssen seinen Oberkörper hinab bis zu ihrem Ziel legte. Ihre Orgasmen hatten sie wach gehalten, als geschähen sie im Zimmer nebenan.
Orla las den Text aufmerksam wie eine Wissenschaftlerin, durchkämmte ihn nach relevanten Daten. Der zweifellos verzauberte Autor warf mit Superlativen um sich, wie ein Betrunkener, der eine Lokalrunde ausgibt. Das Haus der «Leinwand-Verführerin und wunderbaren klassischen Schauspielerin Anthea Blake» spiegelte demnach «ihr leidenschaftliches Temperament» und «ihre zeitlose Schönheit» wider.
Ja,
dachte Orla,
der Dualit-Toaster auf der Arbeitsfläche spiegelt ihr leidenschaftliches Temperament perfekt wider. Genau wie die Klobürste auf dem Bild vom Marmorbad.
Ein Olivier Award steht auf dem Kaminsims. In diesem theatralischen Haus fühlt sich der Theaterpreis sichtlich wohl. ‹Als ich dieses Objekt im Schaufenster des Maklerbüros erblickte, wusste ich sofort, dass
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