Ein letzter Brief von dir (German Edition)
nicht seine Muttersprache war: Nur Marek konnte so etwas fragen, ohne schwülstig zu klingen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er die Worte sorgsam gewählt und für angemessen befunden hatte. Er saß unbekümmert nackt in Orlas Bett und aß Trauben.
«Mein Traum? Keine Ahnung.»
Warum stritt sie es ab?
«Es ist einer der wichtigsten Berufe auf der Welt», sagte Marek vollkommen ernst. «Wenn du arm bist, bedeutet Bildung Reichtum. Du trägst die Verantwortung für kleine Köpfe, Orla. Na ja, in deinem momentanen Job sind es nicht ganz so kleine Köpfe. Aber eines Tages wirst du dich wieder um kleine Köpfe kümmern.»
Das war eine Feststellung. Bevor er es aussprach, hatte Orla es sich selbst nicht klargemacht, aber ja, sie würde wieder in die bizarre Welt der Kommunikation mit Siebenjährigen zurückkehren. Wenn er das so einfach erkannt hatte, erkannte er vielleicht noch ganz andere Sachen. Orla stand auf und zog ihren Morgenmantel enger um sich. Sie legte heute Morgen keinen Wert darauf, sich in die Seele blicken zu lassen. Sie war extra früher aufgestanden, um sich auf Websites mit Promi-Schnappschüssen herumzutreiben, während er noch schlief.
«Nicht.» Marek zog an der Kordel um ihre Taille, und der Mantel öffnete sich. Unter dem Stoff schlang er seine Arme um sie, sodass sie auf ihrer bloßen Haut lagen. Sein Gesicht berührte ihren Bauch.
Orla schob die Hände in sein Haar. Sie fühlte sich mächtig, als hätte sie einen Löwen gezähmt und ihn zu sich befohlen. Unerwartet traten ihr Tränen in die Augen. Eine Welle gemischter Gefühle überwältigte sie. Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Ein Gefühl von Sprachlosigkeit ließ sie schweigen.
«Weihnachten.» Marek zog sie zurück aufs Bett. «Was machen wir?»
Sie ließ ihr Haar über ihr Gesicht fallen, als sie die Kordel wieder zuknotete. Gedehnt fragte sie: «Wir?»
«Ja, du unzugängliche kleine Irin, wir. Oh, ich weiß schon was. Ich mache einen traditionellen englischen Truthahn für dich und Maude. Und Bogna, leider. Ja?»
«Ja, bitte», lächelte Orla. Es fühlte sich an, als fände ein Puzzleteilchen an seinen Platz.
«Und lass uns auch für Silvester Pläne machen», sagte Marek und klopfte neben sich auf das Laken. Als sie ihn ignorierte, klopfte er fester. «Komm her, du Weibsstück.»
Das Weibsstück kam und schmiegte sein Gesicht an seine Brust. «Ich bin kein Fan von Silvester», sagte sie. «Es ist so gefühlsduselig.»
«Ich war an Silvester noch nie am Trafalgar Square», sinnierte Marek, als hätte sie nichts gesagt. «Im Fernsehen sieht das immer nach einer verrückten Party aus.»
«Liebe Güte, der Trafalgar Square!» Orla schauderte. «Stell dir nur vor. Eingekreist von Betrunkenen, klirrende Kälte, alle brüllen, und dann der Heimweg in den frühen Morgenstunden.»
«Kurz gesagt, du hast also nie davon geträumt, dabei zu sein?»
«Nein, mein Herr.»
«Aber du findest es auch irgendwie aufregend?»
«Irgendwie. Auf eine
Zum-Glück-muss-ich-das-nie-machen
-Art und Weise.»
«Das wäre also entschieden. Wir werden uns um Mitternacht am Trafalgar Square küssen.»
«Auf keinen Fall, Hoppelhase.»
«Es ist perfekt. Eine komplett neue Erfahrung für uns beide, um in das neue Jahr zu starten.
Unser
neues Jahr.
Das hier
werde ich um Mitternacht mit dir machen.» Seine Lippen fanden ihre und neckten sie ein wenig.
«Wenn du das machst», lachte Orla, «dann muss ich
das hier
machen.» Mareks Augen weiteten sich. «Mitten auf dem Trafalgar Square werden wir dafür verhaftet.»
Er wälzte sich auf sie. «Aber das ist es wert.»
Abena war außer Atem. Sie steckte ihr vor Aufregung glühendes Gesicht zur Tür herein. «Es ist ein Mann für Sie da!», keuchte sie euphorisch. «Er sieht gut aus!», fügte sie mit kehliger Stimme hinzu und verschwand prompt wieder.
Orla war froh, dem Gestank frischer Farbe in dem renovierten Klassenzimmer zu entkommen, und sammelte Bücher und Computer ein. Ihr war klar, dass ihr Prestige bei ihren Studenten soeben mächtig gewachsen war. Sie schlüpfte in ihren Mantel, froh, dass Marek gekommen war. Als wüsste er, wann sie ihn brauchte.
Ein Bedürfnis hatte den ganzen Nachmittag an ihrem Saum gezupft wie ein vorwitziges Kind. Es gab aber keinen Grund, in die Beatrice Gardens zu fahren, jetzt, da Orla hatte feststellen müssen, dass sie es nicht durchziehen und das Tagebuch befreien konnte. Ihr Unterbewusstes jedoch war damit nicht einverstanden. Orla kämpfte
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