Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
Teil. Löschte die Lichter. Saß im Halbdunkel. Nicht ins Bett, das war spürbar. Überallhin jetzt, aber nicht ins Bett. Hinüber ins Arbeitszimmer? Nein, in den Salon. Er setzte sich aufs Sofa, auf dem er saß, wenn Besucher kamen. Ulrike war einmal, ohne zu warten, wo er sie gern hingehabt hätte, auf das Sofa zugegangen und hatte sich hingesetzt. Sie war so unbekümmert. So freimütig. Er drückte jetzt sein Gesicht in das goldgelbe Kissen mit den blassroten Vogelfiguren. Vögel, wie sie nur in Märchen fliegen. Auf dieses Kissen hatte sie ihren Arm gelegt. Aber wie sie ihn hingelegt hatte. Mit einer weit ausgreifenden und dann doch ganz sanft auf dem Kissen landenden Bewegung. Er dachte an seinen Lucidor im Mann von fünfzig Jahren. Der hatte sein Gesicht ins Kissen gedrückt, als er seiner Lucinde nachtrauerte. Ganz in seinen Schmerz versunken. Aber dann stand Lucinde vor ihm. Er glaubte, sie verloren zu haben. Nur mit Ihnen wollt ich leben, sagt er. Und sie: Lucidor, Sie sind mein, ich die Ihre. Und hatte ihn umarmtund gebeten, dass er sie auch umarme. Literaturliteraturliteratur!
    Er nahm das Kissen und warf es in die entfernteste Ecke. Nur noch Bücher lesen und schreiben, in denen es so böse zugeht wie im Leben. Er sehnte sich nach einem Roman, in dem die Aussichtslosigkeit herrscht. Werther! Nein, der konnte sich umbringen und war erlöst. Er kann nicht einmal einschlafen, eine Stunde lang schlafen, für eine Stunde erlöst sein! Wachsein, das ist die Folter. Wachsein heißt, an sie denken. Goethe ist Rokoko. Wer hat das gesagt? Vielleicht das Söhnchen August. Sein missglückter Samen. Goethe ist Rokoko, er 19.   Jahrhundert. Hat das Söhnchen gesagt. Ach, wär er nur Rokoko. Ach, hätte das doch nie aufgehört, dieses tändelnde Gelände, dieser Kordon aus Laune und Scherz, gegen den die Welt nichts vermag. Darum musste sie ihn ja zerstören. Da durfte passieren nur das Erträgliche. Dann diese törichte Revolution mit ihren Beglückungsphrasen, die nur die Phrasenmacher selbst beglückten, die Menschen aber auf Hoffnungswege schickte, die ins Unglück führten   …
    Er musste die Augenblicke durchgehen, die ihm aus den Jahren 21 und 22 in Erinnerung geblieben waren. Dann die Unterschiede zu den Augenblicken des gegenwärtigen Sommers. Das Ergebnis: Wenn die Ulrike heute noch die Ulrike von damals wäre, säße er jetzt nicht hier im Dunkeln und sortierte Augenblicke wie Funde aus der Vorzeit. Die Ulrike vom letzten und vorletzten Sommer hatte ihn gewonnen durch ihre ungenierte Lebhaftigkeit, durch ihr bedenkenloses Temperament, durch die Ironie, mit der sie ihren zwei Schwestern gegenüber die Mutter spielte. Undoft, wenn sie wieder etwas gesagt hatte, was ihr selber gelungen vorkam, hatte sie sich fast parodistisch zu ihm hingedreht, weil sie von ihm hören wolle, ob er, was sie gerade gesagt hatte, gut finde. Das war eine reizende Gewohnheit geworden, ihre Wendung zu ihm mit der rein pantomimischen Frage: Und – wie finden Sie das? Manchmal sprach sie es auch direkt aus: Und der Herr Geheimrat, wie denkt der darüber. Selbst kleine Provokationen gestattete sie sich: Falls der Herr Geheimrat überhaupt zugehört hat. Was wir schlichten Mädchen überhaupt nicht verdienen. Worüber auch immer gesprochen wurde, sie produzierte Gelegenheiten zu zeigen, dass er ihr der Wichtigste sei in der Runde. Das passierte ihm auch sonst, aber nirgends war es ein Mädchen, das nicht nur ihn ehren wollte, sondern so lieb wie lustig andauernd das Bedürfnis hatte, mit ihm in einen immer ein bisschen riskanten Kontakt zu kommen. Aber es war ein Mädchen. Sie glaubte offenbar, dafür sorgen zu müssen, dass es ihm in ihrer Familie keine Sekunde langweilig werde. Als ihre Mutter ihr gesagt hatte, Goethe wünsche, einen Sohn zu haben, dass er selber dann Ulrike zur idealen Frau für seinen Sohn ausbilden könne, hatte sie beim nächsten Treffen gesagt, sie denke darüber nach, warum der Herr Geheimrat nicht seinen Wunschsohn für sie ausbilden wolle anstatt sie für den Sohn. Und, hatte er gefragt, Ihre Erklärung? Zwei Möglichkeiten, hatte sie gesagt, entweder glaubt der Herr Geheimrat, sein Sohn sei sowieso der ideale Wunschmann für jede Frau und jede Familie, oder   … Sie hatte Goethe angesehen, hatte die Arme ausgebreitet und hatte im muntersten Ton gesagt: Oder dem Herrn Geheimrat würde es einfach Spaß machen, anso einem unruhigen Mädchen, wie ich es bin, herumzuerziehen. Statt zu antworten, schaute er

Weitere Kostenlose Bücher