Ein liebender Mann
so viel Überlegung angezogen wie vorher noch nie in seinem Leben. Mit liebender Gründlichkeit hatte er die Westen, die Schals, Fräcke und Röcke zusammengestellt. Sie hat es nie gesehen. Und jetzt noch dieser Erzsatz: Sie sehen schön aus heute. Ja, ja, ja, sie hat nicht nur gesagt: Sie sehen schön aus, sondern: Sie sehen schön aus heute. Dass er ja nicht glauben konnte, er sehe überhaupt schön aus. Und schon gar nicht,er sei schön. Aber ein Vierundsiebzigjähriger ist unter keinen Umständen schön. Und wenn er, ohne schön zu sein oder wenigstens schön gefunden zu werden, nicht leben kann, dann soll er sich nicht ins Schreiben, sprich Jammern flüchten, sondern sich, wie es sich gehört, erschießen.
Er stand im Ankleidezimmer vor dem raumhohen Spiegel. Die sechs Lampen links und rechts spendeten wieder das günstigste Licht. Er konnte den nackten Mann in diesem Spiegel nicht abstoßend oder nur im mindesten ekelerregend finden. Er konnte sich nicht wehren gegen eine Art Zärtlichkeitsempfindung, die er diesem Nackten gegenüber empfand. Und die Empfindung galt kein bisschen der Person, sondern allein der Nacktheit. Allerdings erhob sich dann ein Sturm, eine Nervosität, eine ihn fast schüttelnde, auf jeden Fall eine ihn vom Spiegel wegtreibende Ungeduld. Er sehnte Ulrike herbei. Nichts konnte grotesker sein, als sich neben diesen Nackten, den jemand – er wusste nicht mehr, wer – als jugendlichen Greis bezeichnet hatte, als sich neben den die in ihren Gliedern herrlich dahinschwingende Ulrike zu wünschen. Wenn sie mit ihm gegangen war, hatte sie manchmal gesummt, und dieses Fastschonsingen hatte dann ihre Bewegungen dirigiert. Eigentlich tanzte sie immer. Jetzt lag sie in ihrem Bett, und der vornamenlose Gardemaßmann lag neben ihr oder auf ihr. Dass sie gleich in der ersten Nacht ihre Jungfernschaft opfern würde, bezweifelte er. Obwohl, wer weiß. Dieser Orientale musste keine hiesigen Bräuche befolgen. Und ihr könnte er einzureden versuchen, dass sie beide ohnehin dafür geboren seien, in den Wonnen des Orients zu schwelgen beziehungsweise darin unterzugehen. Da er inseinem Gepäck immer Schmuck jeder Art mit sich führte, würde er, wenn sie in seiner Suite die Tür hinter sich zugemacht hätten, zuerst probieren, welcher Schmuck für sie der richtige wäre. Dass Ulrike keinen Schmuck trug, nackt der beträchtliche Hals, nackt die mindestens ebenso beträchtlichen Ohrläppchen, das muss eine Herausforderung sein für den orientalischen Nichtorientalen. Sie brauchen Farben, gnädiges Fräulein. Oder eben Feuer, also Brillanten. Dass er nicht mit Ulrike auf ihr Zimmer gehen wird, sondern sie mitnimmt in seine Suite, die zweitgrößte im Palais Klebelsberg, ist klar. Das Küssen haben sie inzwischen hinter sich. Sie großer Mann, hat sie einmal, als sie unter den Kolonnaden standen, zu ihm gesagt. Aber wahrscheinlich hatte sie nur den Dichter gemeint. Jetzt konnte sie das mit mehr Beteiligung sagen. Du großer Kerl. Falls der erste Kuss vorbei war. Die Saalfenster drüben waren dunkel. Darüber noch da und dort ein Fenster mit Licht. Kein wirklich erleuchteter Raum mehr. Nur eine alle Handlungen fördernde Andeutung von Beleuchtung. Il y a quelque chose dans l’air entre nous.
Als er wieder von selber atmete, ging er hinüber, ging noch einmal vor den Spiegel im Ankleidezimmer. Komisch genug, dass er sich diesem Nackten nahe fühlte. Am liebsten hätte er ihn gestreichelt. Aber das dann doch nicht. Aber da, zwischen den weich und nachgiebig werden wollenden Lenden, sein Geschlechtsteil, das ein Leben lang den Ehrgeiz hatte, das Ganze zu sein. Er hatte den machtlüsternen Ehrgeiz dieses Teils ein Leben lang zähmen müssen. Das war nicht immer gleich gut gelungen. Es gab Zeiten, da beherrschte dieser Ehrgeiz ihn mehr, alser zuzugeben wagte. Natürlich geweckt durch Frauen. Er sollte nur noch wünschen und tun, was dieses Teil wollte. Das war so bis auf den heutigen Tag. Dass das Teil in der Sprache, in der das Leben doch erst zu sich selbst kommt, nicht erscheinen darf, es sei denn lateinisch oder verballhornt, ist eine Schande. Sag ruhig: eine Kulturschande. Zu deren Überwindung hast du nichts getan. Entschuldige dich nur, rühme dich dieser und jener Sprachbefreiungstat. Dass das Geschlechtsteil seinen Ausdrucksanspruch, und das ist sein Lebensanspruch, immer noch außerhalb fortfrettete, in einem blöden Feigheitsverlies, das war mangelhaft. Er entschuldigte sich wieder einmal bei seinem
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