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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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zuerst zur Mutter hin, als habe er nicht damit gerechnet, dass sie diesen hinempfundenen Wunsch gleich der Tochter weitersage. Die Pause nutzte Ulrike: Dass Sie ein leidenschaftlicher Erzieher sind, hat sich herumgesprochen. Und wer würde sich nicht danach sehnen, von Ihnen erzogen zu werden. Die dritte Möglichkeit: Der Herr Geheimrat glaube, eine Levetzow müsse, dass sie einen Goethe wert sei, noch extra dressiert werden! Alle lachten. Goethe hatte dann ziemlich leise angefangen, ein Geständnis zu machen, das er auch selber so nannte. Warum soll ich’s nicht gestehen, hatte er gesagt, die ganze Sohngeschichte kann mir nur eingefallen sein, weil ich etwas sagen wollte, was mich in einer Situation zeigt, in der ich andauernd mit Ihnen zu tun hätte. Sein Geständnis wurde, glaubte er, von der Mutter und Ulrike mit einer Art Rührung aufgenommen. Die immer quicke Schwester Amalie musste natürlich gleich dazu sagen: Und wenn Rike erzogen ist, komm ich dran. Und Bertha: Und ich? Am Saisonende verabschiedete man sich. On s’est promis de s’écrire.
    Alle diese Stunden hatten die Wirkung gehabt, dass er diesem Sommer entgegengewartet hatte. Ein bisschen. Dann aber dieser Blitz. Die neue Ulrike. Ihr Blick. Ihre Haltung. Und in allem, was sie tat und sagte, glaubte er zu spüren, sie setze fort, was im vergangenen Jahr angefangen hatte. Sie zeigte, dass sie’s tat. Nur jetzt als eine andere Ulrike. Wie im vergangenen Jahr wendete sie sich wieder aus Gesprächen heraus an ihn, forderte sein Urteil, seine Reaktion. Aber sie tat es, als zitiere sie sich aus demvergangenen Jahr. Was hatte er seitdem übersehen, falsch gesehen? Woher sein Eindruck, Ulrike und er bewegten sich auf einander zu? Woher seine Sorglosigkeit die Zahlen betreffend? Und dass ihm das möglicherweise Skandalöse seiner Auftritte mit Ulrike kein Nachdenken wert gewesen war. Gab es Einschränkungen, Abweisungen, die er nicht bemerkt hatte? Er musste nicht nur diese oder jene Einzelheit, sondern alles falsch empfunden haben. Sie hatten an einander vorbeigelebt. Wahrscheinlich wäre sie entsetzt, wäre auch ihre Mutter entsetzt, wenn beide wüssten, in welche Illusion er sich hineingelebt hatte. Wie er aus dieser Illusion herausfinden sollte, wusste er nicht. Seit Jahrzehnten geht es ihm mit seiner Farbenlehre so, mit seinem Anti-Newtonismus. So gut wie alle Physiker dieser Zeit machen sich über ihn lustig oder zeigen sich besorgt über seinen Starrsinn. Aber er kommt nicht mehr heraus aus seiner eher empfundenen als errechneten Farbenlehre. Aber lieber würde er heute noch zu Newton desertieren und zugeben, dass seine Lehre eine starrsinnige Illusion sei, als für möglich halten, er könne Ulrike je anders empfinden, als er sie empfand. Wenn sie nicht so ist, wie er sich das einbildet, dann lebt er in einer Illusion, gegen die er nichts vermag. Er nennt es Liebe. Er spürt das doch wie eine Brandwunde. Oder wie ein einziges Geschrei. Oder überhaupt eine Katastrophe. Man weiß noch nicht, was gestürzt, explodiert, zu Grunde gegangen ist, der Himmel ein Untergang, kein Mensch sieht mehr den anderen. Er stand und ballte die Fäuste und presste sie in seine Augen. Und weinte. Eine Zeit lang. Ziemlich lang. Und hörte sich singen. Und sang. Sang das Schubert-Lied mit seinem Text:
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Allein und abgetrennt
    Von aller Freude,
    Seh’ ich an’s Firmament
    nach jener Seite.
    Ach! der mich liebt und kennt
    Ist in der Weite!
    Es schwindelt mir, es brennt
    Mein Eingeweide.
    Nur wer die Sehnsucht kennt,
    Weiß, was ich leide!
    Die Stelle Es brennt mein Eingeweide sang er zweimal. Und Weiß was ich leide zog er genau so furchtbar in die Höhe, ins Nichtmehrendenkönnen, wie der Graf Klebelsberg. Er merkte, dass er den imitierte, und das mit innerster Beteiligung.
    Er ging hinüber, zog den weißen Flanell-Schlafrock an. Ins Bett konnte er immer noch nicht, obwohl der Schlaf ihn von dem Gedankenzwang befreit hätte. Aber sich jetzt hinlegen und darauf warten, in den Schlaf hineinzufinden, es war nicht vorstellbar. Liegend wäre er den schlimmsten Vorstellungen schutzlos ausgesetzt. Er musste sitzen. Noch besser, stehen, gehen, hin und her, die Hände auf dem Rücken, seine Präsentierhaltung, in der er bis jetzt alles überstanden hatte. Er ging heftig hin und her. Für sein Hin- und Hergehen waren diese Räume viel zu klein. In Weimar hatte er sechs Räume nach einander, wenn es nötig war, türlos, eine Bahn.

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