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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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von fünfzig Jahren dieses Wort in einer so schicksalhaft zugespitzten Situation gebrauchten, wussten sie, dass da stand: Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen. Nichts anderes wollte er. Und dass er inzwischen den ganzen Eheformalismus hinausgeredet hatte aus Ulrikes und aus seinem Lebensentwurf, hatte sie inzwischen sicher drüben mitgeteilt. Überhaupt war diese Antwort der Stil der Mutter, wenn sie die Mutter darzustellen hatte. Das war nicht Amalie von Levetzow, die Prachtsfrau, die jeden Raum, in den sie trat, beherrschte. Und Ulrikes Stil war es noch viel weniger. So restaurierte er sorgfältig sein Empfinden, seine Perspektiven, seine Situation.
    Am 18.   August 1823 am frühesten Nachmittag sollte der Abschied stattfinden. Der Wagen wartete schon. DieMutter und die Töchter waren schon als Reisende gekleidet. Man wird einander wiedersehen, das ist sicher, das ist abgemacht, das ist unwiderruflich. Es war die sprühende Herzlichkeit der Mutter, die die Szene befeuerte. Die Umarmungen waren mehr als Routine. Die Umarmung mit Ulrike missbrauchte er nicht zu irgendwelchem leidenschaftlichen Ansichpressen. Amalie war die Einzige, die die kleiner gewordenen Pflaster an Stirn und Nase erwähnte. Wenn Sie mit mir zum Hain hinaufgewandelt wären, wär Ihnen das nicht passiert. Ulrike geht ja selber immer, als flögen ihre Glieder davon. Da musste Bertha noch sagen: Alles Gute, Herr Geheimrat, bis bald einmal.
    Da das alles auf der Terrasse, also im Freien stattfand, war ein Handkuss nicht möglich. Sie waren schon fast am Wagen, da drehte sich Ulrike noch einmal um, kam noch einmal bis an den Terrassenrand und sagte:
    K V d O o M .
    Irgendeine Ahnung sagte ihm, dass er das verstehen müsse. Aber so schnell kam er einfach nicht mit. Ulrike hatte offenbar damit gerechnet, dass er wisse, was K V d O o M  heiße oder bedeute. Als sie sah, dass er nichts verstand, sagte sie, als erinnere sie ihn an etwas, was er kenne:
    Unsere Kürzelsprache. Und rief zur Familie hin: Bitte, dem Herrn Geheimrat übersetzen: K V d O o M.
    Und Amalie und Bertha sofort: Keine Veränderung des Ortes ohne Mitteilung.
    Sie sagte zu ihm, sagte es leise, fast innig: Verstanden, Exzellenz.
    Und er: Verstanden. In dieses eine Wort legte er sein ganzes Glücksgefühl hinein.
    Sie, Routine parodierend: Au revoir.
    Aus den Wagenfenstern winkende Hände. Zuletzt noch für länger Ulrikes Hand. Als er in seinem Zimmer zurück war und hinüberschaute auf die Terrasse, kam sie ihm verwüstet vor. Er würde die Tage, die er hier noch zuzubringen hatte, hinter zugezogenen Vorhängen verbringen. So befahl er sich das. Es antwortete sein Herz. Er musste sich am Fensterkreuz halten. Sein Herz. Gegen die Brustwand. In den Hals hoch. Sein Herz führte sich auf wie ein Gefangener, der an die Zellentür schlägt, um befreit zu werden, weil dieses Eingesperrtsein ein Unrecht ist. Er versuchte, das Herz durch Bewegungen und vorsichtiges Atmen zu versöhnen. Umsonst. Wenn das so zunahm, musste es gleich zu Ende sein. Das Atmen. Alles. Und rief Stadelmann. Der kam. Dr.   Heidler, sagte er, Stadelmann sah, verstand, rannte hinaus und hinunter. Er stand immer noch am Fenster. Zwei Schritte zum Sofa. Dann saß er. Liegen ging nicht. Und atmete kurz und oberflächlich. Sein Badearzt kam, Goethe musste nichts erklären, musste aber mit hinüber, sich aufs Bett legen, Dr.   Heidler hörte ihn ab und sagte: Ein Aufruhr. Ein Aderlass werde helfen. Und nahm den gleich vor. Goethe schlief ein. Als er aufwachte, saß Stadelmann auf dem Stuhl neben dem Bett. Er dankte Stadelmann. Der konnte gehen.
    Zurück zur Abschiedsszene. Lächerlich zu glauben, man könne sich etwas vorstellen. Wenn etwas dann da ist, spürt man, du hast es dir kein bisschen vorstellen können. Sie ist weg. Erst jetzt. Und jetzt war auch diese Szene wieder da, die Kürzelsprache der Levetzow-Töchter, die hatte er doch oft genug erlebt, mein Gott. Gleich bei der erstenScott-Lesung vor zwei Jahren. Bertha hatte zu weit vorne angefangen, Amalie hatte sofort gerufen: S w s w n n . Dann hatten sie ihm übersetzt: S w s w n n heißt: So weit sind wir noch nicht. Das sei ihre Kürzelsprache. Ja. Sie seien Kinder des 19.   Jahrhunderts. Bald werde man sich nur noch in der Kürzelsprache unterhalten. Amalie und Bertha hatten das herausgesprudelt, aber die offenbar ernsthaft gemeinte Begründung kam ohne missionarischen Eifer ganz ruhig von Ulrike. Sie war offenbar die Schöpferin dieser Sprache.
    Am

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