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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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elf Jahren, hörte zu, wie Beethoven seine erste große Klaviersonate spielte. Das war absolute Musik. Heute das zweite Mal in diesem Saal absolute Musik. Dass Anna Milder von Beethoven dankbar bewundert wurde, weil sie für ihn und für die Welt das Urbild seiner Leonore im Fidelio geworden ist, macht uns Zaungäste der absoluten Kunst zu einer erlauchten Gesellschaft. Als Anna Milder in Schönbrunn Napoleon vorsang, blieb dem nichts anderes übrig, als zu sagen: Voilà une voix.
    Als mehrere kennerhaft lachten, sagte er zu denen hin: Als Kaiser kann man sich kurz fassen, unsereinem bleibt Ausführlichkeit nicht erspart.
    Warum werden unsere Vorstellungen immer übertroffen von der Wirklichkeit! Darüber dachte er redend nach. Dann spürte er plötzlich, dass er redete, ohne dabei zu sein. Und löste sich übergangslos aus dieser Routine. Er gestand, dass er wisse, diese Art von Reflexion werde von ihm bei solchen Gelegenheiten erwartet. Einfach weil man nicht jedes Mal überwältigt, aber doch jedes zweite Mal klug sein könne. Und erlebte mit einem Mal, was er gerade erlebt hatte, als er Ulrike als Zuhörerin erlebt hatte. Von diesem Erlebnis ließ er sich jetzt soufflieren. Er verließ sich darauf, dass das Wirkliche, auch wenn es fast anstößig zu sein schien, dann doch als Einziges der Rede wert war. Also, sein Blick sei während dieses Konzerts eine Zeit lang bei Fräulein von Levetzow geblieben. Er habe zwar, wiees sich gehöre, wieder weggeschaut von ihr und hinauf zu dieser so schönen wie begnadeten Künstlerin. Dann die Überraschung: Wenn er wieder zu Ulrike von Levetzow hinschaute, hörte er die Musik sozusagen reiner, als wenn er beobachtete, wie sie entstand. Fräulein von Levetzow wirkte nämlich als Zuhörerin so, als habe sie, falls die Augen anderer oder gar aller Zuhörer auf sie gerichtet wären, so zuzuhören, wie überhaupt zugehört werden müsse. Sicher ohne Absicht ist sie die beispielhafte Zuhörerin geworden. Kein bisschen lenkte sie ab von unserer großen Künstlerin, sondern hin zu ihr und ihrer Kunst. Er konnte und wollte die Wirkung dieser Stimme und das beispielhafte Zuhören Ulrikes nicht von einander trennen. Dass sie so zugehört hatte, war die Wirkung dieser Musik, die für ihn eben durch ihr Zuhören die wirkliche Wirkung wurde. Direkter kann nichts sein als das, was durch Kraft und Glanz und Kühnheit einer solchen Stimme durch eine solche Zuhörerin sichtbar wird. Er war immer dagegen gewesen, durch Eindruck und Erlebnis außer sich zu geraten. Schubert, gesungen von Klebelsberg, das hatte er empfunden als eine Wirkung, die durch ihre Ursache nicht gerechtfertigt war. Diesmal nahm die Stimme einen in Besitz, ohne dass man dahinschwand, den Tönen ausgeliefert in der musikbedingten Seinsschwäche. Sich verlor. Und das kam von dieser Zuhörerin, die kein bisschen verloren war, sondern beispielhaft gesammelt. Sogar neugierig. Frau Milder hat in einer Neunzehnjährigen den Kontinent eines Gefühls erweckt, einen von ihr unbetretenen Kontinent. Und er wagte eine Prophezeiung. Wenn diese Zuhörerin die hier besungene Sehnsucht in der Nichtmusikwelt kennenlernt,da, wo die Sehnsucht ihre wirkliche Gewalt ausübt mit dem Text: Da, wo du bist, kannst du nicht leben, und dahin, wo du dich hinsehnst, wirst du nicht kommen, dann wird sie auf diesen Kontinent der Musik fliehen, um die sogenannte Wirklichkeit ihren Untergang in der Schönheit wissen zu lassen. Das hat er jetzt erlebt: Solange die Sehnsucht in dieser Musik ist, zerstört sie uns nicht. Wir halten sie nicht nur aus, wir feiern sie. Für ein paar Augenblicke sind wir unzerstörbar. Wirklichkeit hat gegen die Schönheit keine Chance.
    Und ging hin zur Künstlerin und reichte ihr die Hand hinauf. Und dem Grafen auch. Zu Ulrike hin verbeugte er sich sanft. Die Leute applaudierten. Er wies den Applaus den beiden Künstlern zu. Dann winkte er Julie von Hohenzollern mit der Geste, die er immer produzierte, wenn er ihre Hilfe brauchte. Sie war auch sofort bei ihm und führte ihn, der sich jetzt hilfsbedürftiger gab, als er war, hinaus. Als er sich zu Ulrike hin verbeugt hatte, war ihm unwillkürlich eine Art Achselzucken und eine von beiden Händen produzierte Geste der Hilflosigkeit oder gar der Bitte um Entschuldigung passiert. Ulrike hatte sofort verstanden und ihren vom Schalkragen präsentierten Kopf ein wenig, aber wirklich nur ein wenig hin und her bewegt. Eine Geste der vollkommenen Übereinstimmung. Zur Entschuldigung

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