Ein liebender Mann
seinerseits nicht der geringste Anlass, hieß das. Alles übermenschlich schön. Innig. Ausgeruht. Eine Harmoniesekunde, von der die Welt tausend Jahre lang zehren wird. So gestimmt ging er dann hinaus.
Während Julie von Hohenzollern sagte: Wie ich ihn kenne, will der Geheimrat jetzt ein Egerer Lagerbier. Undlenkte ihren Schützling so temperamentvoll, wie sie unter allen Umständen war, in die Fürsten-Stube.
Erst als er den ersten tiefen Schluck getan hatte, sagte er: Prinzessin, wie oft werden Sie mich noch retten.
Und sie: Goethe retten, das wäre meine Lieblingsbeschäftigung.
Und er: Ich fürchte, Sie werden zu tun haben. Zum Wohl. Und trank das Glas aus.
Abends nach dem Essen wollte Amalie wissen, warum der Herr Geheimrat nicht sie angeschaut habe.
Und Bertha: Oder mich.
Jetzt aber Frau von Levetzow: Oder mich.
Ulrike sagte, bevor Goethe antworten konnte: Ihr seid ja direkt neben ihm gesessen, ich ganz außen in diesem Halbkreis. Stellt euch vor, er muss, um euch anzuschauen, den Kopf herumreißen, unmöglich. Also blieb eben nur ich. Und ganz im Ernst, meine Damen, ich bin nicht sicher, ob ihm zu euch eingefallen wäre, was ihm zu mir eingefallen ist. Tatsächlich habe ich mir durch seine Beschreibung vorstellen können, wie ich zugehört habe.
Ach ja, sagte Amalie, jetzt tu nicht so, als hättest du nicht gemerkt, dass er andauernd zu dir hinschaut. Dann hast du ihm eben das Gesicht geliefert, das er brauchte.
Der Graf Sternberg meldete Widerspruch an. Tatsächlich habe man, egal, wo man saß, merken müssen, dass für den Geheimrat Ulrike so wichtig war wie Frau Milder. Er, zum Beispiel, sei den Blicken des Geheimrats gefolgt, habe dann und wann schnell hinübergeschaut zu der ganz links außen Sitzenden, da habe er begriffen, warum der Geheimrat immer wieder hinüberschaute. Wenn er es ausdrückendürfte, würde er sagen: Ulrikes Sachlichkeit beim Zuhören war das Bezwingende.
Aber ein bisschen peinlich war es schon, sagte Amalie, dieses Ulrike-Anstarren.
Mir nicht, sagte Ulrike fröhlich. Angestarrt zu werden habe ich gelernt in diesem Sommer.
Und genossen, sagte Amalie.
D s d g, rief Bertha.
Und Ulrike schnell und leise zu ihm: Das sieht dir gleich.
Es reicht, rief Frau von Levetzow. Und sagte, ohne auch nur den Versuch einer Überleitung zu machen, sie halte immer noch diese Einteilung für die plausibelste: Harte Männer wie Napoleon liebten wehmütig-weiche Musik. Weiche Männer wie vielleicht unser aller Goethe sind mehr für lebhaft-heitere Töne.
Wenn das gestimmt hat, sagte der Graf, dann stimmt es seit heute nicht mehr.
Stimmt, sagte Ulrike.
Am liebsten waren Goethe die Unterhaltungen, die ohne ihn auskamen. In seinem Zimmer setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb:
Ein liebender Mann
Die Frauen sind das Geschlecht der Sachlichkeit. Ein Mann erlebt alles nur als Stimmung. Als seine Stimmung. Die Frau erlebt immer die Sache. Die Sache selbst. Sie geht dann mit der Sache um, über die sie ein Urteil hat. Das Urteil ist mehr von der Sache bestimmt als von ihr. Das macht ihre Sachlichkeit aus. Der Mann urteilt, wieihm gerade zumute ist. Sein Urteil hat weniger mit der Sache zu tun als mit ihm selbst. Wenn die Welt weltgerechter verwaltet werden soll, muss sie von Frauen verwaltet werden. Wann wird das sein? Die Männer gehören in den Sandkasten und an den grünen Tisch. Die Frauen ans Ruder.
Da er ein Mann ist, sagt diese Aussage mehr über ihn aus als über den Gegenstand, dem sie gilt. Das muss er, um ein wenig Zurechnungsfähigkeit bemüht, noch dazusetzen.
Eine Frau ist erkennbarer als ein Mann. Ulrike hat es bald gesagt: Je mehr sie von ihm lese, desto weniger wisse sie, wer er sei. So kann nur jemand sprechen, der seiner selbst sicher ist. Allerhöchstes Geflunker, hat sie sein Schreiben genannt. Aber wer ist er? Hat sie gefragt. In aller Sachlichkeit. Er wird Ulrike noch vor dem Abschied, also morgen noch wird er sie fragen, ob er ihr immer noch so vieldeutig vorkomme, wie er ihr als Autor vorgekommen sei. Ob er immer noch nur der sei, der er jeweils ist.
Man ist für sich selbst nicht zuständig. Erkenne dich selbst: eine liebenswürdige Illusion. Oder eine Aufforderung, sich selbst zu erfinden. Das bist dann nicht du, sondern deine Erfindung. Nur andere können dich kennen. Je mehr sie dich lieben, um so genauer kennen sie dich.
Er ist sich jetzt so deutlich wie noch nie. Durch Ulrike. An ihr hört alles Ungefähre auf. Wie sie auf ihn reagiert, zeigt ihm,
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