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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Kristallglas. Das wurde Goethe von Bertha überreicht. Die drei Töchternamen wanden sich um das Glas in einem Efeukranz. Goethe las die Namen, schaute jede, wenn er ihren Namen las, an. Zuerst Bertha. Dann Amalie. Dann Ulrike. Dann las er das Datum: 28.   August 1823.   Und den Ort: Elnbogen. Dann sah er die Mutter an und sagte so lustig wie möglich:
    Jetzt müsste es sich bloß noch reimen.
    Bitte, rief Bertha, auf Elnbogen.
    Und er: Bleibt mir immerfort gewogen.
    Bravo, rief Bertha.
    Amalie sagte: Ich hätte freie Rhythmen vorgezogen.
    Und Ulrike: Mit Reimen glättet man allzu stürmische Wogen.
    Und die Mutter: Ich bin sprachlos.
    Und Ulrike: Endlich ein Grund zum Feiern.
    Singend fuhren sie über den Hammer zurück in die Stadt. Schon bevor sie ausstiegen, sahen sie die Menschenmenge vor dem Goldenen Strauß. Eine Blaskapelle setzte ein. Hochrufe, nicht aufhören wollende Hochrufe. Frauvon Levetzow verschwand schnell mit den Töchtern in dieser Menge. Goethe hatte noch gewissermaßen instinktiv nach Ulrike greifen wollen, hatte noch ihre linke Hand erreicht, in seiner Hand blieb ein lavendelblauer Seidenhandschuh zurück. Den steckte er sofort ein. Er konnte denen nicht nachrennen. Er durfte überhaupt nicht merken lassen, dass er denen nachrennen wollte. Er musste bleiben. Und plötzlich, er spürte es richtig, plötzlich blieb er gern. Es hob ihm die Arme, die Hände, er rief, da er einfach nicht stumm sein konnte, Wörter, Sätze in den freundlichen Lärm aus antreibender Blasmusik und Hochrufen. Er fühlte sich getragen, mitgerissen, er rief jetzt selber: Hoch, hoch, hoch. Das wiederum feuerte die Leute an. Die Kapelle intonierte eine Melodie, die alle kannten. Sie riss die Melodie nur an, dann übernahmen fünf Waldhörner, geblasen von braungebrannten zwanzigjährigen Engeln, und was sie so seidenweich wie innig bliesen, war Sah ein Knab’ ein Röslein steh’n. Die Leute verstummten. Die fünf Waldhörner feierten das Lied, die Abendsonne tat ein Übriges. Alle weinten. Auch Goethe. Er verbarg es nicht. Mit seinem spitzenbesetzten Taschentuch wischte er sich die Tränen aus den Augen. Mehr als einmal. Und die Leute weinten mit ihm. Auch Männer weinten. Weil ihm zu allem Wörter einfielen, fiel ihm auch jetzt ein Wort ein: Leutseligkeit. Er fühlte sich leutselig. Zum ersten Mal in seinem Leben. Leutselig. Und dieses Gefühl füllte ihn aus bis zur Unverwundbarkeit. In diesem Augenblick wusste er: Alles wird gutgehen. Bertha, Amalie, Ulrike, sagte er, rief er. Aber die Blaskapelle sorgte jetzt dafür, dass außer ihr nichts Hörbares mehr nötig war. Der Dirigent hatteden Einsatz gegeben, mit dem neuesten Marsch aus Wien zog die Kapelle ab Richtung Sprudel. Die Leute machten Platz. Was für ein großer Mann, dachte Goethe, dieser Dirigent, der mit einem fröhlichen Marsch von dem Platz zieht, den er gerade noch zum Weinen gebracht hatte. Immer die Musik, dachte er. Den Kopf zu schütteln vermied er.
    Goethe wurde von zwei Kellnern des Hauses noch die paar Schritte zur Treppe geleitet, drehte sich oben unter der Tür noch einmal um, nahm eine letzte herzliche Hoch-Serie herzlich dankend entgegen und war drinnen.
    In seinem Zimmer fragte er sich: Könnte man denn davon nicht auch leben? Das war inzwischen seine Selbstgesprächsroutine, alles, was geschah, daraufhin zu prüfen, ob es ihm die Sehnsucht nach Ulrike erträglicher machen könne oder nicht. Was da auf dem Platz vor dem Goldenen Strauß geschehen war, wollte er, musste er zusammen mit Ulrike erleben. Erst dann könnte er ganz aufgehen in so einem freundlichen Sturm. Ohne Ulrike war es ein Stück ohne Hauptdarstellerin.
    Er zog den seidenen lavendelfarbenen Handschuh, der ihm in den Händen geblieben war, heraus. Den würde er nicht mehr hergeben. Um das zu bekräftigen, schrieb er, malte er auf den Handrücken:
    Karlsbad, am 28.   August 1823.
    Dann sah er erst das Eingewickelte auf seinem Tisch. Wickelte es aus. Eine blassrote Schleife von ihrem simplen weißen Lotte-Kleid. Und ein Billet, auf dem stand:
    Wie die geliebte Vorgängerin möchte die Nachfolgerin am Geburtstag mit der blassroten Schleife zur Stelle sein. Ulrike.
    Stimmt, Lotte hatte Werther an seinem Geburtstag die Schleife geschenkt, die blassrote. Ach, Ulrike! Wie das jetzt ausdrücken, dass es Lotte nicht gegeben hat. Dass er Lotte war, wie er Werther war. Dass es eine Liebesgeschichte mit sich selbst war. Eine Krankengeschichte. Ulrike, du bist so über allem, was je war und

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