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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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auch nur verstimmen. Und verstimmt bin ich schnell.Sie haben es in Böhmen mitgekriegt. Bitte, probieren Sie’s, beschimpfen Sie mich so ernsthaft wie möglich.
    Sie haben mir erlaubt, Ihnen zu schreiben. Ich habe, sobald ich in Weimar eingetroffen bin, mit dieser Briefschreiberlaubnis gekämpft. Jeden Tag habe ich vierundzwanzig Stunden lang – denn ich habe auch in den Träumen weitergekämpft – alles getan, Ihnen nicht schreiben zu müssen. Mehr als einen jähen Briefschreibanfall habe ich überstanden, bin, wie verwundet auch immer, Herr geblieben, das heißt, ich habe bei mir durchgesetzt, was sein muss: kein Brief. Ein Brief an Sie, was kann er anderes sein als die fortgesetzte Täuschung. Ich erreiche Sie doch gar nicht. Ich verlängere nur das schmerzliche Ausstrecken meiner Hände in Ihre Richtung. Werde ich den Mut haben, Ihnen zu schicken, was ich Ihnen schreiben muss? Aber wie? Den Postmeister Leser samt Sekretär Steffany im Alexanderhof hat Ottilie sicher längst erobert. Ich könnte Stadelmann beauftragen, den Brief in Kranichfeld oder Blankenhain oder Buttelstedt aufzugeben. Falls Ottilie nicht überhaupt schon alle Postbeamten im weiten Umkreis herumgebracht hat. Verfolgt darf ich mich fühlen, auch wenn die Post noch nicht gegen mich eingenommen ist. Verfolgt von einer aus tausend Quartieren stammenden Oberaufsicht. Jede Art von Sitte, Moral, Gewohnheit, Anstand und Ordentlichkeit hat sich zu einer einzigen Oberaufsicht zusammengefunden, um mir auf jede Art zu sagen, ich sei unmöglich. Weil ich Sie liebe, Ulrike. Ich nenne inzwischen dieses Zusammenwirken aller Hochlegitimen gegen mich Dramaturgie. Das ist eine Veranstaltung, bei der alle sich nicht mit einander verabreden müssen unddoch zusammenwirken, auf ein Ziel hin: Das Ziel bin ich beziehungsweise der Nachweis meiner Unmöglichkeit. Die ich besser kenne als meine Dramaturgen. Ein Unterschied, ein alles entscheidender Unterschied zwischen der von mir Dramaturgie genannten Oberaufsicht und mir: Die dort unwillkürlich Vereinigten bekämpfen meine Unmöglichkeit mit allen ihren kulturellen und gesellschaftlichen Mitteln. Ich bekenne mich zu meiner Unmöglichkeit. Sie werden alles tun gegen meine Unmöglichkeit. Ich tue nichts gegen meine Unmöglichkeit, aber für sie tu’ ich alles. Alles, was ich kann. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, könnte man, um vollends theatralisch zu werden, sagen.
    Liebe Ulrike, und das sag ich Ihnen, nur Ihnen, und auch Ihnen kann ich es nur sagen, weil ich nicht weiß, ob ich das in diesem Brief Gesagte Ihnen je schicken kann. Ich bin krank. Das darf Ottilie nie merken. Ich bin auch krank. Aus Liebe. Zu Ihnen. Und darf das Ihnen nur sagen in einem Brief, den ich Ihnen nie schicken werde! Was für eine Welt! Nach wie viel Jahrtausenden kultureller Einübung ins eher Menschliche! Aber das ist dann doch eingeübt: Obwohl ich Sie so schnell nicht wiedersehen werde, obwohl ich Ihnen diesen Brief sicher nicht schon morgen schicken kann, obwohl ich Ihnen vielleicht diesen Brief nie schicken werde, es ist doch etwas, Ihnen zu schreiben. Solange ich Ihnen schreibe, spreche ich Sie an. Ich sehe Sie. Sie hören mir zu. Ich bilde mir ein zu wissen, wie Sie auf diesen und wie Sie auf jenen Satz reagieren. Und ich nehme Ihre Reaktionen auf in meinen Brief. Ich lese in Ihrem zuhörenden Gesicht eine herzliche, gut, auch teilnahmsvolle Billigung meines Briefschreibens. Sie erinnern sich:Mein Werther ist ein Briefroman. Ich kann mich nicht umbringen. So sehr überschätze ich immer noch den Wert der Welt, das ist: der Umwelt. Ich gönne denen nicht den Hohn, den sie entfesseln würden in ihren Blättern, wenn sie melden könnten: Jetzt hat er sich leider endlich umgebracht. Überschrift: Die Leiden des alten Werther. Vielleicht nimmt meine Unmöglichkeit so zu, dass mir diese Umwelt bald gleichgültig sein wird. Dann werde ich’s tun, Ulrike. Und jetzt muss das Ernsteste gesagt werden. Tun kann ich’s nur, wenn Sie einverstanden sind. Sagen Sie nicht vorschnell: Nie. Warten Sie ab, ob ich Ihnen meine Lebensunmöglichkeit so verständlich machen kann, dass Sie, um meinetwillen, um der Leidensbeendigung willen sagen: Ja, tu’s. Das wäre ein Moment, um in die Du-Zone zurückzukehren. Vier Stunden lang haben wir sein dürfen in der Du-Zone. Ich zerre Dich schnell in meine innerste Nähe. Haben wir nicht in Marienbad einmal darüber gesprochen, dass es ein Verharren im Barbarischen ist, das Ende jedes Lebens der sogenannten

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