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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Ich habe seit dem 17.   September gelernt, die Mitleidsbekundung, egal ob innig oder hämisch, ist fatal. Ich darf nicht zu fassen sein. Ich kann nicht von heute auf morgen ein undurchschaubares Benehmen vorführen. Aber ich habe gelernt. Frauen und Mädchen gegenüber bin ich schon ziemlich gut. Das ist das Innerste des zarten Wunders, nur um das mitzuteilen, musste ich Ihnen diese Hinführung zumuten, das Innerste ist, dass Kraft und Reichtum meines Benehmens allein von Ihnen kommen. Darum gelingt es auch Frauen und Mädchen gegenüber so gut. Selbst diese und jene Caroline würde mich, käme sie mir heute vor die Augen, nach einer halben Stunde für das Muster eines liebenswürdigen Verehrers halten. Und das kann ich, weil ich in jedem Mädchen, in jeder Frau Sie sehe und empfinde und eben verehre. Seit ich Sie in mich aufgenommen habe, weiß ich, dass alles, was ich bis jetzt an Mädchen und Frauen hinempfunden und auch hingeredet habe, Routine war, Rollentext. Jetzt erst bin ich es selber, der fühlt, der spricht.
    Darf mir jetzt die Hand wehtun? Seit Werthers Zeiten habe ich nicht mehr so lange mit der Hand geschrieben. Gute Nacht, Ulrike.
     
    Weimar, 10.   Oktober 1823
    Liebe Ulrike,
gestern nach dem Freischütz fielen sie bei mir ein. Wurden bewirtet. Ich selber tranchierte den Braten. Ottilie, die wieder auferstanden ist aus ihrer finsteren Starre, stellte sich neben mich und sah mir auf die tranchierenden Hände, als müsse sie prüfen, ob ich alles richtig mache. Tatsächlich lobte sie mich dann laut, viel zu laut. Sie hat einfach kein Maß für das Richtige. Das fiel sogar dem Sohn August auf. Vater ist nicht dein Bedienter, sagte er streng. Wer mich nicht liebt, darf mich auch nicht beurteilen, schloss vieldeutig Adele Schopenhauer, mich zitierend, das Intermezzo. Übrigens, auch das ist eine taktische Errungenschaft meiner Kriegsführung: Wenn ich in die Oper geladen werde, sage ich jetzt immer freudig zu, und in letzter Minute fühle ich mich dann nicht wohl. Würde ich gleich absagen, müsste ich herumreden, verbergen, dass ich ohne Ulrike keine Musik mehr ertrage. Also die Taktik der Absage in Raten. Die jungen Frauen, die ich zur allgemeinen Erheiterung meine Sandhäschen nenne, habe ich inzwischen so weit, dass ihre Augen mich nicht mehr nach Ulrike-Spuren absuchen. Ausgenommen natürlich Ottilie. Nun saß man und aß. Mit am Tisch der junge Nicolovius, ein feiner, förderungswürdiger Kerl. Und siehe da, die jungen Damen drehten sich wie Sonnenblumen dem fabelhaften Jungmann zu. Mir blieben ihre Rückseiten. Und auch da war es Ottilie, die alles tat, dass der junge Nicolovius Mittelpunkt blieb. Ich spürte, dass sie mir demonstrieren wollte, wie uninteressant ich sei, wenn ein junger Mann erscheine.Das, liebe Ulrike, hat mir den Abend verdorben. Darauf, dass das niemand bemerkte, könnte ich einerseits stolz sein, andererseits schaute zu mir einfach keiner mehr her, weil der prachtvoll junge Nicolovius unter Ottilies Regie alle Aufmerksamkeit wirklich verdiente. Der Hausherr schlich sich also vom Platz und barg sich in seiner Kammer. Stadelmann kam, zündete fünf Wachslichter an, es konnte gelesen werden. Stadelmann weiß, welchem Laster sein Herr, wenn er abhaut, verfällt. Er liest, aber er liest die Elegie. Er liest sie nicht einmal oder zweimal, sondern ganz genau unzählige Male. Liebe Ulrike, bitte, mir zu erlauben, ER zu sagen. ER ist der, den ich nötig habe, um ICH zu sein. Was ich Ihnen schreibe, ist anders, als was ER Ihnen schreibt. Es gibt in mir nie ein Zögern, schreib ich Ihnen das als ICH oder als ER. Seit Werthers Nussbäumen wissen Sie, wer ich bin. ER ist eine Fassade, von der man hofft, sie wachse nach innen. ICH ist das Geständnis, dass keine Fassade gelingt. Vom 17. bis zum 27.   September hat er die Elegie ins Reine geschrieben, auf das beste Papier, das John beschaffen konnte, und es war keine Sekunde lang denkbar, dass John die Elegie abschreiben dürfe. Und noch etwas: Immer noch war die Elegie unvorzeigbar. Und ist es bis heute. Natürlich kam er sich jetzt ein bisschen unreif vor, als er in seiner Kammer die Elegie lasterhaft las, wissend, dass er sich dergleichen verbieten sollte. Und fühlte sich zum Glück lebendig genug, sich zu sagen: Warum solltest du dir etwas verbieten, was dir so guttut. Dass er die Elegie dann doch allmählich fast auswendig kannte, führte überhaupt nicht dazu, dass er über den Text hinwegglitt. Er las jede Zeile nicht nur mitden

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