Ein liebender Mann
Heirat zu tun hat! Dreimal hinschauen, dass nicht mehr so eine Blamage passiert wie mit Knebel! Nicht der fünf Jahre ältere Knebel hat geheiratet, sondern sein Sohn!!!
Weimar, 19. Oktober 1823
Liebe Ulrike,
Ein liebender Mann.
Als wir Du sagen durften, habe ich Dir auf der Waldwiese die Lupine gepflückt, die auf uns gewartet hat. Unter blauen und roten Lupinen habe ich diese eine gepflückt, die rote. Das düster glühende Lupinenrot liebe ich. Bevor ich sie Dir habe geben können, bist Du in die Wiese hinausgegangen. Du trittst, wie Du durchs Gras gehst, nichts nieder. Ich habe Dir zugeschaut, wie Du Dich gebückt hast, wie leicht Du Dich gebückt hast, wie schön Du warst, als Du Dich gebückt und Deine Lieblingsblumen gepflückt hast. Und bist zurückgekommen mit dem Arnikastrauß und hast den dichten gelben Strauß geöffnet für meine Lupine. Die ließ ihr Düsterrot in Deinem Schwall Gelb untergehen. Wir haben dazu gelacht. Nicht laut. Aber Gesichter von Lachenden haben wir gehabt, als wir dann zurückmarschierten in die Welt, die Karlsbad heißt.
Was soll ich noch, als sagen, was war. Weißt Du, Du kannst es nicht wissen, ich muss es sagen, was der Abbé, meine Pädagogikschublade Nr. 1 in Wilhelm Meisters Lehrjahren, sagt: Alles ist relativ. Du wirst es noch erleben, dass nach all den absolutistischen, dogmatistischen, nationalistischen und humanistischen Schwärmereien ein paar Besonnene auf diesen Satz kommen werden. Der Satz ist unfertig. Das macht ihn nicht weniger brauchbar. Wer aber seine Unfertigkeit erfährt, soll es doch sagen. Sonst gilt der Satz mehr, als er gelten soll. Alles ist relativ, ausgenommen die Liebe. Das ist eine Erfahrung. Meine Erfahrung durch Dich. Du musstDir gefallen lassen, dass ich es Dir sage. Du bist einzigartig. Mit Deiner Einzigartigkeit beherrschst Du mich. Tag und Nacht. Gibt es nicht tausend Mädchen, Frauen, so und so gewachsen, so und so lachend, gehend, tanzend, schauend, ja, auch schauend, gibt es nicht Wunderwerke von Mädchenblicken, Frauenaugen, tiefe Märchenseen, wartend auf den Sturm, der ihren Reichtum zur Welt bringt? Kann sein, kann sein, kann sein. Für mich ist keine einzigartig. Vielleicht bin ich der Einzige, der Deine Einzigartigkeit erlebt. Vorstellbar ist es nicht. Aber denken tu ich das gern. Wenn ich der Einzige bin, der Deine Einzigartigkeit erlebt, dann musst Du doch mein sein. Das ist die schönste, die platonische Märchenvorstellung: Jeder Mensch ist einzigartig, aber nur für einen einzigen Menschen. Und der bist Du für mich. Ich muss mir dafür nicht aufzählen, was Eigenschaft heißt oder Haarfarbe. Wenn ich der Einzige bin, für den Du einzigartig bist, bleibt nur noch zu fragen: Bin ich einzigartig für Dich? Ich bin’s nicht. Sonst wärst Du längst hier. Eingebrochen, hereingeklettert bei Regen und Sturm, ohne Rücksicht auf jede Art von entgegenstehender Ordentlichkeit. Du bist trotzdem einzigartig für mich. Diese Asymmetrie ist die Schere, die das Unglück misst. Dafür weiß ich, was Liebe ist. Vorschnell habe ich mir im Divan den Einlass ins Paradies erschrieben. Das Leben hatte mich borniert gemacht. Großgetönt habe ich:
Nein! Du wählst nicht den Geringern!
Gib die Hand, daß Tag für Tag
Ich an Deinen zarten Fingern
Ewigkeiten zählen mag.
Diese tändelnde Gewissheit ist mir jetzt zerschlagen worden. Ich verwünsche die kulturelle Wünscherei. Aber die Utopie, vermag sie nichts? Wenn Sie wieder überdeutlich abwesend sind, lande ich bei der Neuen Héloïse und dergleichen, flüstere vor mich hin: Und zu den Füßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, heute, morgen und übermorgen, ja sein ganzes Leben.
Wird er? Sag es ihm. Bald.
Es gibt das Paradies: Zwei für einander. Es gibt die Hölle: Einer fehlt.
Liebe Ulrike, Dir mute ich zu, was ich den armen, von naturlosen Traditionen Betäubten meiner Kreise nicht zumuten kann. In Karlsbad, wo man dichter an einander vorbeiflanierte, hat einer, als er uns eng neben einander gehen sah, herübergewitzelt: Sie probieren wohl Ihre Unsterblichkeit aus. Das ist Kulturgeschwätz. Dir, die denkt und nie nachäfft, kann ich sagen, was ich, weil ich aufgepasst habe, weiß: Einige Naturen erleben eine wiederholte Pubertät, während andere nur einmal jung sind. Das ist kein Künstlerprivileg. Es ist kein Geschenk der Natur. Es will erworben sein durch Arbeit. Diese Arbeit ist moralfrei. Wie Muskulatur, Augenkraft, Gehör, Stimme, Herzklopfen, Hufeland
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