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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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nennt’s Lebenskapazität. Das war die Epistel von dem, was wirklich ist.

3.
    Brief von Ulrike.
    Ulrikes Brief glitt ihm aus den Händen. Er hatte ihn nicht zu Ende lesen können. Jetzt lag der Brief vor ihm auf dem Boden. Ein Brief auf blauem, gerändertem Glanzpapier. Er durfte sich nicht bücken. Stadelmann. Der kam sofort. Goethe zeigte auf den Brief. Stadelmann hob den Brief auf und ging deutlich rücksichtsvoll aus dem Zimmer. Er hatte den lavendelblauen Brief mit der heutigen Post gebracht. In Marienbad und Karlsbad hatte er öfter lavendelblaue Briefe zu bestellen gehabt. Goethe sah, seine Hände zitterten. Sein Herz hämmerte. Er musste atmen. Er atmete nicht von selbst. Immer erst, wenn es zu spät war. Dann japste er nach Luft. Dann wieder nichts mehr. Bis es wieder zu spät war. Er versuchte zu atmen, bevor er wieder japsen musste. Nur ganz flach anatmen konnte er. Hin und her gehen. Ja, er ging hin und her. Sogar ziemlich rasch. Er beeilte sich. Es musste entschieden werden, ob er Ulrikes Brief zu Ende lesen konnte. Gelesen hatte er bis zu dem Satz, in dem mitgeteilt wurde, Herr de Ror werde am 31.   Oktober in Straßburg erwartet. Im Ulrike-Stil. Kurz, knapp, ohne Verzierung. Dieser Mitteilung ging voraus, wie es zu diesem Besuchstermin kommen konnte. Graf Klebelsberg und dieMutter haben dafür gesorgt, dass der Kontakt mit Herrn de Ror nicht abriss. Jetzt meldete de Ror entweder direkt der Mutter oder auch wieder über den Herrn Finanzminister, dass er eine sensationelle Kollektion aus Brasilien zu zeigen habe. Edelsteine, wie sie Europa noch nicht gesehen hat. In Paris, in Wien, in Dresden oder, warum nicht, in Straßburg. Und die Mutter oder Graf Klebelsberg oder beide, wahrscheinlich beide, sagen: Straßburg. Ulrike wird das als Beschluss mitgeteilt. Sie kann wohl nichts dagegen haben, dass man sich bald einmal wieder sieht. Und wie herzlich Herr de Ror alle grüßen lässt. Besonders natürlich die Schönheit namens Ulrike. Er hoffe immer noch, in Ulrike eine dem Schmuck günstige Empfindung zu wecken. Ihren aphrodisischen Hals und die schwellenden Ohrläppchen so zu vernachlässigen sei eine Sünde   …
    Dann war ihm der Brief aus den Händen gefallen. Stadelmann hatte den Brief aufgehoben, hatte eine Sekunde lang gewartet, ob er den Brief seinem Herrn in die Hände geben oder ob er ihn auf den Tisch legen sollte, hatte dann schnell entschieden, ihn auf den Tisch zu legen. Da lag er jetzt. Das eilige Hin- und Hergehen hatte genützt. Er atmete wieder richtig. Er mäßigte das Tempo. Trotz dieses Inhalts hatte er, als er den Brief las, noch gedacht: Ganz und gar Ulrike. Wie auf ihren Billets in Marienbad. Eine Sprache ohne Schmuck. Da war er wieder bei ihrem Hals, bei ihren Ohrläppchen. Ihr aphrodisischer Hals. Das fand er noch nichtssagender als die schwellenden Ohrläppchen. Der Blick des Schmuckverkäufers entdeckte natürlich, was da fehlte. Dass Ulrike aber einen Anti-Schmuck-Affekt beherbergte, weil ihre Mutter immer herumlief wie eineSchmuckwarenmesse auf zwei Beinen, das begriff ein Herr Velozifer nicht.
    Er musste hin und her gehen. Das Tempo musste er wieder steigern. Er musste so schnell gehen, dass er mit Atemholen beschäftigt war. Und wenn er so hin und her rannte, wusste er auch, warum sein Herz gegen die Brustwand hämmerte und im Hals heraufschlug. Sein Herz, das gefangene Tier. Er, der Gefängniswärter. Mit welcher Uhr soll er die Sekunden von heute bis zum 31.   Oktober zählen. Heute, der 24.   Oktober. Er würde den Brief heute nicht mehr zu Ende lesen. Er ging zum Schreibtisch, da lag der dritte Band des Adelung’schen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart. Ganz von selbst griff er nach dem großen dicken Buch und legte es auf den Brief. Konnte er aufatmen? Ja. Er atmete auf. Lächerlich. Aber von solchen Vorstellungen lebt man. Dass der Brief jetzt unter dem großen dicken Buch lag, tat ihm fast gut. Eine Art Racheempfindung. Das einzig Wichtige: Das Lavendelblau war weg, aus dem Zimmer, aus der Welt. Und merkte, wie dumm er dachte. Der große dicke Adelung-Band war ein Denkmal für den darunter liegenden Brief. Deutlicher als mit diesem Riesenbuch konnte die Anwesenheit dieses Briefs in diesem Zimmer nicht demonstriert werden. Mag der Adelung auch an nichts als an den lavendelblauen Brief erinnern, trotzdem ist er nicht dieser lavendelblaue Brief. Egal, was an was erinnert: Wenn er den lavendelblauen Brief nicht sieht, wird es leichter fallen, ihn nicht zu Ende zu

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