Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
mich herum. Eine Liste dessen, was ich zu meiden habe. Gute Nacht, Liebste.
    PS: Es würde genügen, wenn Sie schreiben würden: Meine alles bedenkende Mutter schreibt Ihnen doch dann und wann, Exzellenz. Sie schreibt Ihnen, dass Sie mir nicht schreiben sollen. Sie hat ein Konzept. Dann schreib mir doch heimlich, Mensch.
     
    Weimar, 17.   Oktober 1823
    Die Liste der Vorsicht und des Vermeidens. Welche Situationen sind gefährlich, weil sie Anfälle und Überfälle provozieren.
    Jedes Ausdemfensterschauen ruft die Fenster der Goldenen Traube her. Jedes Glasinderhandhalten die Promenade. Jede Erwähnung Napoleons. Jede Erwähnung von Gedichtübersetzung. Jede Erwähnung des Wortes Vornamen. Ebenso die Wörter Palais, Brunnen, Kreuz, Schokolade. Nicht mehr äußern, dass jetzt alle Spazierfahrten langweilig seien, und dadurch merken lassen, dass jemand, mit dem sie nicht langweilig wären, fehlt.
    Vorher wissen, wann die Kirchenglocken läuten. Dass der Sehnsuchts-Schreck dich nicht gleich wieder zum Zittern bringt. Immer um sechs von der Promenade zurück, noch auf der Terrasse, dann läuteten plötzlich Kirchenglocken, wir sahen einander an, stumm. Solange die läuteten.
    Bei plötzlichen Regenfällen nicht gleich wieder daran denken, dass man in Marienbad auf dem Weg vom Kreuzbrunnen hinauf zum Klebelsberg-Palais zweimal richtig durchnässt worden ist.
    Wenn von Tanz gesprochen wird, nicht mit unterdrücktem Grimm alle hier gebotenen Tänze abwerten, weil Ulrike besser getanzt hat als alle hiesigen Tänzerinnen.
    Vorsicht bei jeder Stellungnahme zur Farbe BLAU.
    Julie v. E. gegenüber nie mehr einen Satz beginnen mit: Wenn du meine Tochter wärst   …
    Größte Vorsicht, wenn erwähnt wird, wer auf dem Wegvon Dresden nach Paris in Weimar Station macht, wie neulich der Komponist Lecerf.
    Größte Vorsicht bei Unterhaltungen über Musik: Ob Musik seelische Wunden heile oder verschlimmere. Vorgestern ganz verkehrt, Madame Szymanowska für ihr großartiges Klavierkonzert zu danken als eine Heilung seelischer Wunden. Ottilies Blickwechsel mit August.
    Peinlichster Fehler gestern, als beim Abendessen ein Toast auf die Erinnerung ausgebracht wurde, harmlos, absichtslos von der Mutter Egloffstein. Dann mein Zornausbruch gegen dieses Wort, gegen er-innern, als sei das nötig, wo doch alles schon in uns ist, und wie! Ein törichtes Wort: Er-innerung! Mein Ausbruch verriet alles, was ich sorgfältig verberge. Blickwechsel rundum.
    Allergrößte Zurückhaltung beim Thema Schmuck. Weder dafür noch dagegen.
    Gefährliche Sekunde neulich. Der junge Dichter Platen zitierte eine Stelle aus den Wanderjahren: Der Reisende mit geborgtem Namen. Hat ihm gefallen, obwohl so etwas sicher nie vorkomme. Ich habe den Vornamenlosen, der überhaupt nicht hergehörte, nicht unterdrücken können. Kanzler von Müller, der Einzige, der vielleicht etwas ahnte. Die anderen befremdet.
    Sobald jemand von Kupferstichen anfängt, bin ich nicht mehr da, weil Ulrikes Mutter deutlich gesagt hat, am schönsten finde sie es, wenn Ulrike und ich neben einander sitzen und Kupferstiche aus Raffaels Zeiten anschauen.
    Riemer gestern: Etwas sicher wissen und sich selber danach richten ist zu viel verlangt. Das ging gegen mich. Ottilie hat auch sofort versucht, mich hineinzuziehen. Ichbin ausgewichen: So simpel sind wir eben nicht verfasst, das Wissen lenkt uns weniger als das Glauben. Ottilie kniff ihren sowieso nicht vorhandenen Mund zusammen.
    Gefährlich: Wenn der Nebel über den Wäldern hängt wie in Marienbad nach den Regennächten. Wie soll ich nicht daran denken, dass ich zu Ulrike gesagt habe: Sieht aus, als söffen die Tannenspitzen im Nebelmeer. Söffen hatte Ulrike noch nie gehört. Damit hatte ich gerechnet. Solange nach Regennächten Nebel verhängt ist, muss ich mich hüten.
    Aufpassen: Den Ekel vor Paaren nicht beherrschend werden lassen.
    Sobald das Wort Kissen vorkommt, mit aller Kraft die sich aufdrängende Erinnerung an den Vormittag verundeutlichen: Wie sie auf dem Sofa Platz nahm und dabei den linken Arm mit einer ganz unnötig weit ausholenden Bewegung auf dem großen gelben Kissen landen ließ.
    Aufpassen, der Mund! Jedes Mal wenn ich an einem Spiegel vorbeikomme, seh ich, mein Mund ist verkniffen. Der linke Mundwinkel. Verzerrt. Regelmäßige Lippenbewegungen. Entspannung der ganzen Mundpartie. Nichts passt so wenig zum edel Entsagenden wie dieser nach links abwärts gezerrte Mund.
    Aufpassen, sobald eine Nachricht eintrifft, die mit

Weitere Kostenlose Bücher