Ein liebender Mann
nicht, wie oft Sie gut aussehen, also mach ich’s halt kleiner und sage HEUTE, keine Angst, nur heute. Ich aber hörte den schönen Satz falsch. Meine Antwort hätte sein müssen – und nur, um Sie die versäumte Antwort wissen zu lassen, schreib ich Ihnen heute –: Und Sie! hätte ich genau so übermütig rufen müssen, und Sie! und Sie! und Sie! In mir gibt es eine Daueransprache an Sie, hätte ich sagen müssen, wie anstrengend das ist, andauernd unterdrücken zu müssen, was andauernd heraus will. Andauernd könnte ich, ach ja, jubeln. Liebe Ulrike, die Unsachlichkeit, mit der Sie dann und wann sich selber zur Sprache brachten, ist beeindruckend und grotesk. Ich fasse zusammen, was Sie in 49 Sommertagen über Ihr Aussehen bemerkten: Ohren zu groß, Haare zu dünn, Augenfarbeunentschieden, Näschen mit einem Knick, Mund zu klein. Jetzt, was ich in 49 Sommertagen beobachtet und studiert habe: die Ohren, zwei Blütenblätter der kostbarsten Frucht. Der Mund, andauernd im Dienst einer unerschöpflichen Lebhaftigkeit, kann, da er nie zu sich selber kommt, nie zu groß oder zu klein sein, wohl aber ist er die märchenhaft zarteste Verschlingungsgewalt selbst. Für den Einfall Ihrer Nase, kein Lineal sein zu wollen, sollten Sie ihr dankbar sein. Ihre Haare aber, meine Liebe, sind von Ihnen ganz unabhängig, sie bedürfen Ihrer nicht, aber Sie bedürfen dieser Haare, die bedecken nämlich in ihrem sanften Fall den Kopf eines Mädchens, das von Urteilen sprüht, die die Nachhaltigkeit von Sternbildern haben. Ihre Augen, ach, Ulrike, Sie wissen es ja schon von mir, Ihre Augen sind das Bezwingende schlechthin. Ihre Unwiderstehlichkeit, liebe Ulrike, das ist Ihr Blick, mit dem keiner fertig wird. Wie das Meer haben Ihre Augen die Farbe immer vom Himmel, aber was das Meer nicht hat, dazu haben sie eben auch noch die Farbmacht Ihres inneren Himmels. Es reicht, hör ich Sie rufen. Ein wenig weniger hätte der Glaubhaftigkeit nicht geschadet, sagen Sie, weil Sie meiner natürlichen Hemmungsarmut gern Zügel anlegen. Gute Nacht, mein holder Hereinkömmling. Bitte, nehmen Sie Platz, wo Sie wollen. Ach, Sie wollen tanzen. Allein? Ach so, vor mir! Nichts könnte mir erwünschter sein. Sie sind als eine von der Natur vollkommen ausgebildete Tänzerin zur Welt gekommen. Ihnen glückt jede Bewegung. Sie schlendern und schlenkern Ihre Glieder so riskant wie genau, Ihr Hals führt den Kopf spazieren von einer Schulter zur anderen, und schon finden sich Ihre Hände hoch über Ihnen. Da kanndie Musik nicht mehr länger zögern. Ein schöner weißer Vogel dirigiert mit seinen Flügeln ein gefiedertes Orchester. Schon gehen Sie, als wateten Sie in einem süßen Sumpf. Schon stelzen Sie, als sei Ihnen kein Stückchen Erde wert, von Ihren klingenden Füßchen berührt zu werden. Sie sind eine seriöse Parodistin aller tierischen und menschlichen Bewegungsmöglichkeiten. Sie fallen und steigen, aber Sie steigen höher, als Sie fallen. Mühelos kommen Sie auf der unsichtbaren Treppe mit den ihrerseits klingenden Stufen hoch oben an. Dann machen Sie aus Ihren Füßchen zarte Trommelschlegel und vibrieren damit auf etwas, was man nicht sieht, was aber durch Ihre Vibrationen anfängt zu klingen. Das Orchester der Vögel, hauptsächlich Streicher, versinkt in hohen, seufzenden, dann in der höchsten Höhe versinkenden Tönen. Die Flügel werden angelegt. Aber der Dirigent und alle Vögel bleiben, wo sie sind. Der Vogel-Dirigent sagt zu Ihnen hin: Wir wollen nur nicht nach Hause. Das wird von einem Publikum, das man bis dahin nicht bemerkt hat, mit Begeisterung beantwortet. Kein Mensch will mehr nach Hause. Ein ungeheurer Chorgesang erhebt sich, um den einzigen Satz hundertfach zu singen: Kein Mensch will mehr nach Hause. Dann löscht der Hausmeister das Licht und schreit lustig in den Saal: Morgen ist auch noch ein Tag. Gute Nacht, liebe Ulrike. Es wäre für mich eher enttäuschend, wenn ich als sicher annehmen müsste, Du würdest, was ich Dir, wirklich nur Dir schreibe, nie lesen.
PS: Über Du und Sie ein anderes Mal mehr. Entschuldige, Ulrike. Ich kann nicht ins Bett. Mir ist, seit ich Dich kenne, nichts so schwer geworden wie das Einschlafen. Immerder irre Wunsch, nie mehr einschlafen zu müssen. Bin ich wieder ein Kind? Warum wollen kleine Kinder nicht einschlafen, Ulrike? Warum müssen sie mit Sang und Klang jeder Art hinausgetäuscht werden aus ihrem unersättlichen, genialen Wachsein? Ich weiß es jetzt. Sie empfangen in jeder
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