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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Sekunde tausend Daten, für sie ist die Welt eine einzige Attraktion, der sie mit Sinnen folgen, von deren Aufnahmefähigkeit sie dann ein Leben lang zehren. Und dann sollen sie in einen Schlaf, der nichts bringt als Ton und Farblosigkeit. Nein, brüllen sie und wehren sich wüst gegen das Einschlafenmüssen, unterliegen aber schließlich den Routinelisten der Erwachsenen. Bin ich ein Kind? Bitte, beantworte mir morgen diese Frage. Ich will wenigstens andeuten, warum das Einschlafen und Schlafen jetzt so unannehmbar ist. Jetzt hör ich mich die kurzen Schreie ausstoßen, die mir zum ersten Mal in der Nacht nach dem Auftritt des Vornamenlosen passierten. Allein zu sein in einer Nacht und dann zu hören, wie sich solche kurzen kleinen Schreie aus dir lösen, das hat etwas. Wenn ich das öfter sage: das hat etwas, und dann nicht zu sagen weiß, was es hat, dann will ich vermeiden, eine größere Empfindung an kleinere Wörter zu verraten. Mein Kopf ist ein Schlachtfeld, auf dem ich besiegt werde Tag und Nacht. Dass ich mich überleben lasse unter allen Umständen, ist der Grund für die Niederlage ein für alle Mal. Der Grund für jede Niederlage ist die unbehebbare Abhängigkeit. Jetzt wird es noch ernster, Ulrike. Und wenn ich nicht vorher husarenhaft Du gesagt hätte, könnte ich Dir gar nichts vortragen, was so ernst ist. Du bist von mir weniger abhängig als ich von Dir. Wenn Du von mir abhängig wärst wie ich von Dir, würdestDu Dir dort von zwei Mitschülerinnen zwei Leintücher leihen, würdest sie mit Deinem Leintuch zusammenknüpfen, würdest die drei Tücher oben am Fensterkreuz festbinden – Du hast mehr als einmal erwähnt, dass Du niemals einen theoretisch tendierenden Beruf haben möchtest, nur etwas Praktisches komme in Frage, die Hände müssen dazugehören, hast Du gesagt   –, also würdest Du die Tücher, die Du an den Diagonalecken zusammengebunden haben wirst, zu einer Art Tuchseil oder auch Tuchwurst machen, dann Dich daran hinunterlassen und, von neiderfüllten Wünschen Deiner Kameradinnen begleitet, wärst Du auf und davon. So viel Bares, dass es bis Weimar reicht, hast Du. Und warum steigst Du nicht aus hier am Posthaus und kommst die nicht ganz fünf Minuten herüber zum Frauenplan und wirfst mir Steinchen ans Fenster, dass ich, der ich schlaflos hier sitze und auf nichts als auf diese Steinchen warte, sofort am Fenster wäre, Dich drunten sähe, schon drunten wäre bei Dir, Dich umarmte, küsste, heraufführte zu mir für immer, warum liebe Ulrike, findet genau das nicht statt? Bei mir zieht sich ein unabstellbares Spruchband durch den Kopf: Sie kann jeder Zeit von Straßburg nach Dresden unterwegs sein. Gründe, plötzlich zur Familie zu müssen, gibt es genug. Und von Straßburg nach Dresden kommt man ganz nah an Weimar vorbei und, wenn man nur ein bisschen nicht aufpasst, durch Weimar. Hier kann man sogar die Pferde wechseln. Hat Aufenthalt. Mindestens eine Stunde. Wenn sie hier Weimarer Boden beträte, sich an der Poststation erfrischte, dann weiterführe, ohne mich sehen zu   … das ist doch nicht vorstellbar. Das muss ich doch nicht denken. Wenn sie aber in einer dringendenFamilienangelegenheit von Straßburg nach Dresden reist, und das vermag? Was jetzt folgt, ist kein Vorwurf, sondern Feststellung einer naturgesetzlichen und gesellschaftlich tausend Jahre lang abgesegneten Ursache: Du bist von mir weniger abhängig als ich von Dir. Wenn Du diesen Brief liest – ich hoffe, schon bald   –, dann erinnere Dich, wann und wie oft und wie lange Du vom Abend des 16.   Oktober bis, sagen wir, drei Uhr morgens des 17.   Oktober an mich gedacht hast. Unwichtig die Qualität Deines An-mich-Denkens. Dir könnte eingefallen sein, dass Du mich leise darauf aufmerksam gemacht hast im Großen Saal während der Dr.   Rehbein-Verlobung, dass ich aus Nervosität immer mein Taschentuch zusammenrolle und dann diese Rolle oder Wurst mit der Linken umfasse, und mit der Rechten ziehe ich sie dann nach rechts hinaus, dann zurück nach links hinaus, aber nie so weit, dass sie gar nicht mehr in der Linken wäre. Was will ich damit sagen? Mir würde es helfen, von Dir zu erfahren, wie oft ich Dir einfalle und was sich, wenn ich Dir einfalle, abspielt in Dir. Es ist tatsächlich wieder drei Uhr nachts. Ich lege mich hin, lasse das Pultlicht brennen, schaue zur Decke hinauf und denke an Dich. Morgen werde ich eine Liste anlegen, darauf soll alles stehen, was mir gefährlich werden kann. In mir und um

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