Ein liebender Mann
nach 49 Tagen Nichtsalserholung plötzlich so kippt. Dr. Rehbein, den ich erst so weit gebracht hatte, die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, von Christoph Wilhelm Hufeland zu lesen, kam mir jetzt mit Hufeland-Zitaten. Er will mich munter machen mit Hufeland-Sätzen. Sätze, die meine Maschinenfreundin freuen könnten. Das Denkgeschäft selbst, sagt Dr. Rehbein im Jenenser Zitierton, so wie es in dieser menschlichen Maschine getrieben wird, ist organisch. Mit so einem Satz, ruft er, appelliert er an meine Lebenskapazität. Die sei nämlich groß.
In solchen Sätzen können wir zusammenfinden, Sie und ich, Ulrike. Hufeland, erinnern Sie sich? In dem verregneten Sommer, unser Spiel im Lesesaal: In welchem Jahr ist der Autor dieses Satzes oder Gedichts geboren? Ich brachte den Satz: Süßes Leben! Schöne freundliche Gewohnheit des Daseyns und Wirkens! – von dir soll ich scheiden? Mutter und Schwestern, extrem ratlos, Sie aber leichthin, als wünschten Sie sich etwas Schwereres: 1749. Goethe, rief die Mutter, wirklich!? Ich erklärte euch dann, nicht unstolz, dass der bedeutende Hufeland diesen Satz vorne in sein Buch Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, als Motto aufgenommen habe. Ach, Ulrike. Ich bin, wenn ich an Sie denke, immer von Schwäche- und Stärkeanfällen durchtobt. Worauf ich lange stolz war, dasGleichgewicht, ist hin. Ich gebe einen scheußlichen Schwächeanfall preis: das Handelnwollen.
Wenn du nicht alles kriegst, mit wie viel bist du dann zufrieden? Du weißt ja nicht, wie viel du allenfalls kriegen könntest. Weniger als alles, klar. Wie viel weniger? Was ist das Wenigste, was du noch annehmen darfst, ohne so lächerlich zu sein, dass sie dir das nicht mehr anzubieten wagt? Du hast nur dich, mit dem du handeln kannst.
Ulrike, ich könnte jetzt Ihre Routine im Umdrehen weiser Sprüche brauchen. Mit Widrigem fertig werden, indem man seine Notwendigkeit anerkennt. Ich erkenne also an, dass Sie nun einmal in Straßburg sein müssen. Dass das notwendig ist. Für Sie. Die Widrigkeit, dass Sie nicht erreichbar sind, ist dadurch, dass ich ihre Notwendigkeit anerkenne, eher schärfer geworden. Bitte, drehen Sie den Satz so, dass für mich etwas Erträgliches herauskommt. Ich spiele hier die Rolle dessen, der über alles hinaus ist. Heroisch, dann und wann sentimental, es funktioniert. Ich spiele den Entsagenden. Muss ich ja. Sie erinnern sich: Die Wanderjahre oder die Entsagenden. Ich lüge nicht, Komödie lügt nicht, sie ist nur nicht an der Wahrheit interessiert. Andererseits gibt man mir zu verstehen, ich sei von einer krankhaften Reizbarkeit. Meine Frage, ob denn der Herr der Vornamen quelque chose gedacht oder empfunden oder gewusst hat, haben Sie missachtet. Ja, wie soll ich denn da nicht reizbar sein? Ich bin ein Kartenhaus, das behauptet, eine Festung zu sein. Kleine Almanache und Kupferstiche habe ich unter Aufsicht mit Ihnen anschauen dürfen. Und das war’s!
Dr. Rehbein fragte, ob wir für nächstes Jahr Böhmenschon vorbereiten sollen. Ich sagte, sie sollen. Aber glaube ich daran? Ich kann mir die Fichtenwälder um unsere selige Wanne nicht ohne Sie denken. 450 Schritte, haben Sie gesagt, seien wir gegangen von den Kolonnaden bis zum Brunnen. Ich dachte, Sie hörten mir ein bisschen zu, wenn ich erzählte, ich könne, wenn Stadelmann mir die nächste Feder bringt, mit der nächsten Feder nur schreiben, wenn sie der gerade abgeschriebenen zum Verwechseln ähnlich sei – da erzähl ich, wie das Schreiben eine praktizierte Treue ist, und Sie zählen dabei unsere Schritte. Und sagen dann auch noch dazu, dass wir im Durchschnitt 450 Schritte brauchten, manchmal seien es 430, manchmal 470. Das hänge, sagten Sie spitz, ganz davon ab, ob Sie mir zustimmten oder ob Sie widersprächen.
Wie denn das, wollte ich wissen, und Sie:
Wenn ich widerspreche, gehe ich schneller, als wenn ich zustimme.
Und ich: Da Sie mir immer widersprechen, brauchen wir nie mehr als 430 Schritte.
Und Sie: Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.
Da musste ich Sie an die Feinde meiner Farbenlehre erinnern.
Sie, spitz genug: Entschuldigen Sie, Exzellenz, dass ich einen Augenblick lang nicht an Ihre Farbenlehre gedacht habe.
Das ist überhaupt nicht zu entschuldigen, rief ich dann, von Ihrem Übermut angesteckt.
Dann Sie, nur zum Schein spielhaft befehlerisch: Themenwechsel!
Und ich genau so: Feiglingin!
Sie, jetzt fast stehen
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