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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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der gebildeten Welt wäre, würde sie offenbar gern in Kauf nehmen.
    Wirklich nicht vergessen darf ich, dass ich in Ihrem Brief am längsten auf die letzten vier Wörter hingeschaut habe. Sie haben sich eingebrannt in meine Seele. Sie leuchten Tag und Nacht auf, sobald ich auch nur in Ihre Himmelsrichtung denke: Durch Sie bekommt das Wort Himmelsrichtung wieder Klang: Ihre ergebene Freundin Ulrike.
    Das könnte ich mir hundertmal hinschreiben und es hundertmal laut lesen und jedes Mal ganz anders. Kommen Sie, prüfen Sie mich, zählen Sie mit, weil Sie doch im Mitzählen unübertrefflich sind. Aber in was denn nicht! Ihre ergebene Freundin Ulrike. Die Leute, die mich verlachen, weil ich Sie nicht vergessen kann, wissen nichts von Ihnen. Sie glauben, ich habe wegen eines so jungen Menschen den Verstand verloren. Mehr als eine Iffland-Komödie ist es nicht für sie. Weil sie die Contresse Levetzow nicht kennen! Nicht ihren Reichtum im Antworten! Im Widersprechen! Wenn ich an unsere Gespräche denke, weiß ich, dass ich vorher niemals solche Gespräche erlebt habe. Entweder wurde ich angefochten oder angebetet. Sie, Ulrike, Sie, Sie, Sie sind, was mich betrifft, zur Welt gekommen, dass ich mich in einem zweiten Menschen verlieren konnte und erleben, wie er mich mir glücklich zurückgab. Und ich soll Sie nie wiedersehen? Das dürfen wir beide nicht glauben. Herr de Ror hin, Herr de Ror her   … ich schließe, sonst   …Ach, Ulrike! Könnten Sie mir, bitte, noch das Gegenteil eines meiner Sprüche liefern: Wer nicht verzweifeln könne, müsse nicht leben. Bitte das Gegenteil, Contresse Levetzow. Heißt das: Wer nicht leben müsse, könne verzweifeln? Contresse, ist das so? So weit war ich gestern. Bei der Verzweiflung. Und merkte, das muss gestanden werden, dass meine Hände zitterten. Und gezittert wird nicht, ohne dass der Vornamenlose vier Schauspieler die Hände hochwerfen und zittern lässt. Und aus meinem Mund hörte ich die kleinen kurzen Schreie. Nicht nur meine Hände zitterten, bis in die Schultern zitterte ich, und von den Schultern griff es nach dem Hals, ich hob die Hände, legte sie auf Stadelmanns Schultern, als müsse es ihnen dort bessergehen. Stadelmann war hereingekommen. Vielleicht waren meine kleinen kurzen Schreie zu groß geraten. Aber ich konnte die Hände dort nicht liegen lassen, fiel Stadelmann um den Hals, sank dem großen Menschen, er ist sicher einssiebenundachtzig, an die Brust, ich weinte. Und hoffte, er bemerke es nicht. Er sagte: Exzellenz. Und führte mich in die Kammer und setzte mich dort in den Egloff’schen Lehnstuhl. Ich musste den Schmerz zerrinnen lassen, der mir jetzt von den Schultern in die Arme und in den Armen abwärtszog, bis in die Hände, in die Fingerspitzen. Es war nicht das Fließen einer Flüssigkeit, sondern ein Ziehen von etwas Immateriellem, das aber deutlichste Empfindungen, nämlich schmerzliche, im Körperlichen produzierte. Es blieb noch, ich weiß nicht, wie lang, in Armen und Händen eine heiße Schwere. Ich fühl’s. Ich schwör’s.
    Das zuletzt Gesagte bleibt: Ihre ergebene Freundin Ulrike. Und: Ihr unmöglicher Mensch.
    So will ich Ottilie denn glauben, liebste Ulrike, und auch so schließen als Dein unmöglicher Mensch. Wie soll ich denn aufhören, an Dich zu schreiben, Liebste, wenn es außer Dir nichts gibt. Und Dich gibt es nicht. Ecco. Aber einen Neuen Bund gibt es jetzt, den Bund der Elegie. Ihm gehören an Ulrike von Levetzow, Wilhelm von Humboldt, Carl Zelter, Johann Wolfgang Goethe.

5.
    Seit er einmal einen Brief von Ulrike erhalten hatte, wartete er jeden Tag auf einen Brief von ihr. Das durfte noch weniger bemerkt werden als das übrige Geheimgehaltene. Wenn er Stadelmann oder John mit der Post kommen hörte, nahm er sofort ein Blatt und fing an zu schreiben, dass er den mit der Post Eintretenden nicht beachten musste. Allenfalls deutete er mit einer Handbewegung an, wo die Post hingelegt werden sollte. Das Eismeer zwischen den Menschen. Wir wissen zum Glück nichts von einander. Er sah, als der Brief dann eingetroffen war, sofort das lavendelblaue Kuvert. Er wusste auch, dass er den Brief nicht öffnen sollte. Er wusste, dass sie ihm nicht das schreiben konnte, was allein er lesen wollte. Er wusste aber auch, dass sie immer alles schreiben würde, was überhaupt möglich war. Alles Schöneguteglückverheißende, Glückersetzende. Ulrike ging immer weiter, als sie durfte. Sie war voller Liebe. Das war sie doch. Dass sie nicht schreiben

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