Ein liebender Mann
bleibend, auf jeden Fall sich ganz mir zudrehend: Wenn Sie mich so unterwerfungssüchtig machen.
Ach, Contresse Levetzow, sagte ich dann.
Ach, ach, ach, ach, sagten Sie, jetzt habe ich es viermal gesagt, jetzt können Sie es heute viermal weglassen.
Wie sollte mich das nicht glücklich machen, Ulrike! Und es wurde die durchgreifendste Erholung meines Lebens. Ins Leben zurückkehrend, schrieb ich Zelter, dem Einzigen, dem ich alles sage. Fast alles. Ich trage nach, zum Thema Farbenlehre: Sie sind der einzige Mensch, Ulrike, der mich je dazu brachte, beim Thema Farbenlehre heiter zu bleiben.
Weimar, 18. Dezember 1823
Liebe Ulrike,
gestern wurde ich grob gestört. Gerade dass sie noch anklopfte. Dann rannte sie her und schüttete mir ein paar Fetzen Papier auf den Tisch. Beschriebene Fetzen. Hinter ihr drein der kleine Walther, heulend, weil die Mama ihm sein Spiel weggenommen hatte. Er hatte aus einem Blatt Papier sorgfältig Fetzen gemacht, die etwas darstellen sollten. Man sah es. Ein Schiff, ein Baum, eine Kirche, ein Haus. Die wollte er aufkleben, dann anmalen. Das brachte er heulend, seine Mutter anklagend, hervor. Ich musste die Fetzen nicht erst noch ordnen, ein Blick, und ich wusste Bescheid. Ein Gedichtchen. Vor ein paar Tagenhingeschrieben. Ich hatte schon danach gesucht, hoffte, es würde mir wieder in die Hände fallen, das Haus verliert ja bekanntlich nichts, und dieses schon gar nicht, und so etwas überhaupt nicht. Das Gedichtchen heißt:
Erinner’ mich doch spät und früh
Des Lieblichen Gesichts,
Sie denkt an mich, ich denk’ an sie,
Und beiden hilft es nichts.
Zuerst konnte Ottilie nicht sprechen. Sie zischte. Kerzenblass stand sie. Die Hände vorgestreckt gegen mich, halb Drohung, halb Bettelei, dann endlich gelangen zwei Wörter: Tartuffe. Lügner. Sobald sie das heraus hatte, lief es. Heuchler. Uns wird das große Entsagungstheater vorgespielt, und in Wirklichkeit werden Gedichtchen verfasst, wie es ein Neunzehnjähriger nicht besser könnte. So oder so ähnlich. Wie öfter war ihr letzter Schrei: Du unmöglicher Mensch. Allmählich bilde ich mir noch etwas ein darauf. Ich sagte: Komm, Walther. Er kam her. Ich fragte ihn, was es werden sollte. Weimar im Winter. Das war, weil die Fetzen trotz der Schrift weiß waren, sinnvoll. Leim habe ich immer in der Schublade, also klebte ich mit ihm Weimar im Winter. Die Fetzen so, dass die Schrift sichtbar blieb. Aber so, dass ein anderer Text entstand. Walther kann natürlich schon lesen. Nachher war da die Kirche mit Häusern und einem Schiff. Auf den Fetzen stand: spät und früh … Und beiden … hilft es … Sie denkt … an mich … doch … Des Lieblichen Gesichts … Erinner’ mich.
Ottilie hatte ihr Schlusswort Du unmöglicher Menschgeschrien und war gegangen. Sie sah uns in einer sinnvollen Klebearbeit. Walther war stolz auf sein Werk. Und durfte das sein. Wieder allein, schrieb ich mir das Gedicht, das ich, nachdem Ottilie es Gedichtchen geschimpft hatte, nicht mehr so nennen konnte, hin. Und las es mir halblaut vor:
Erinner’ mich doch spät und früh
Des Lieblichen Gesichts,
Sie denkt an mich, ich denk’ an sie,
Und beiden hilft es nichts.
Schlimm, dass ich dieses Blatt verlegen, verlieren konnte! Jetzt weiß sie wieder Bescheid. Jetzt kann ich wieder tagelang den sinnreichen Gleichmütigen, den geduldig an allem Teilnehmenden, den Weisen von Weimar spielen, das simple Gedicht hat mich verraten. So etwas muss ich doch hinschreiben dürfen. Ich kann mich nicht zuschandenschlucken. Aber dann … dann muss ich aufpassen. Viel besser aufpassen. Ich lebe in Feindesland. Kanzler von Müller, der Einzige, mit dem ich manchmal spät abends bis in die Nähe meines Zustands plaudern kann – obwohl auch er mich dafür bewundert, dass ich so gut über alles weggekommen bin! –, Kanzler von Müller sagt mir manchmal, was in der Sphäre der Vermutung und des Gerüchts noch herumschwirrt. Die Gerüchte werden blasser, sagt er. Er will sagen: Wir können zufrieden sein. Aber was er zuletzt anbrachte, kann ich Ihnen nicht ersparen, weil es mich fast gerührt hat. Caroline von Wolzogen, Schwester der Witwe Schillers, eine der schlimmeren Carolinen, hat in Umlaufzu setzen versucht, wenn Goethe jene junge Levetzow wirklich zu sich nehmen wolle, das aber gegen Ottilie nicht durchsetzen könne, sie, Caroline von Wolzogen, nehme die Levetzow herzlich gern bei sich auf. Dass sie damit das Zentrum des Interesses
Weitere Kostenlose Bücher