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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Diese Geistes- und Phantasiestärke. Diese Lebenskraft. Diese wirklich himmlischen Verse. Diese ergreifende Leidenschaft. Es gibt überhaupt nichts Höheres, sagte er, als ein Gefühl ganz als Poesie vorzutragen. Ich habe gesagt, dass ich die Elegie bis jetzt nur einem einzigen Menschen gezeigt habe. Ich sah, dass er sich vorstellen konnte, wer dieser Mensch sei. Sagen konnte er das nicht. Ich auch nicht. Verflucht sei diese Sittensklaverei. Aber als Humboldt erlebte, wie ich auflebte unter seinen Mitteilungen, sagte er zu dem alles überwachenden Dr.   Rehbein: Er braucht einen Umgang, der ihm ganz entspricht. Ihr dürft ihn nicht in der Weimarer Eintönigkeit untergehen lassen. Das klang sehr streng. Dr.   Rehbein wollte sich verteidigen. Da war der nächste Hustenanfall dran. Den wartete er ab, Dr.   Rehbein bedeutete ihm durch Gesten, dass er jetzt gehen müsse. Er gab mir die Hand und sagte: Ein göttliches Gedicht. Etwas Schöneres haben auchSie nicht geschrieben. Ich, ganz hustenfrei: Man sollte die Leser raten lassen, in welchem Jahr der Dichter geboren worden ist. Aber, sagte ich noch, es wird nicht gedruckt, vielleicht nie. Da rief er: Herr Dr.   Rehbein, mit dieser Auskunft kann ich nicht gehen. Ich gebot dem Doktor, sich nicht einzumischen, drückte das Gedicht, das er mir zurückgegeben hatte, an meine Brust und sagte hustenfrei: Ich gestehe, dass ich es so oft habe lesen müssen, dass ich es jetzt auswendig kann. Humboldt ging, der böse Husten fiel über mich her. Es wurde schlimmer. Täglich einen Humboldt, das wäre die Medizin gewesen. So aber vierzehn Nächte im Sessel, die Füße geschwollen, Fieber, Nichtfieber, Egel, Aderlass, bis ich nicht mehr konnte, bis ich schrie, sie sollten mir Kreuzbrunnen geben. Nur das nicht, riefen sie. Nur das, rief ich. Und keine Medizin mehr mit dem verhassten Anis. Arnika-Tee, sofort. Wenn ich nun doch sterben soll, so will ich auf meine eigene Weise sterben. Das wirkte. Sie gehorchten. Ich trank gleich eine Flasche Kreuzbrunnen in einem Zug aus. Und noch eine Tasse Arnika-Tee. Und habe die erste Nacht wieder geschlafen. Dann Kreuzbrunnen, täglich. Nachher erzählten sie, dass am Sonntag schon mein Ableben gemeldet worden sei. Sogar im Französischen. Le Voltaire d’Allemagne est mort. Ich hoffe, Ulrike, diese entzückende Voreiligkeit hat Sie nicht erreicht. Ich habe mich, hör ich jetzt, überhaupt nicht gut benommen als Kranker. Kein Held. Ein Jammerer. Und den armen Dr.   Rehbein böse traktiert. Meinen Freund und Allergnädigsten Herrn Carl August hat er nicht zu mir gelassen. So schlimm sei ich dran gewesen. Da habe ich allerdings ins Schloss hinüber depechiert: Wenn ich die Durchlaucht gewesen wäre, hätteich jeden Widerstand beiseite gefegt und wäre am Lager des Freundes gestanden. Hätte ja sein können, ’s ist das letzte Mal. Und als es anfing, bessergehen zu wollen, ich aber doch noch jeder Zeit hätte kehrtmachen können, da kam mein Zelter aus Berlin, endlich. Benachrichtigt worden. Hergeeilt.
    Ach so, du lebst ja noch, rief er. Und beförderte mich durch Aufheiterung, durch Liebe, vollends zurück ins Leben.
    Auch er durfte über Nacht die Elegie lesen. Von ihm verlangte ich, dass er sie mir vorlese. Er tat’s. Und wie! So vorsichtig und dann gleich wieder kühn und doch wieder vorsichtig, dass es eine Freude war, ihn so von der Elegie dirigiert zu sehen. Als er sie mir zum dritten Mal vorgelesen hatte, das verlangte er, sie mir dreimal vorzulesen, sagte ich: Ihr lest gut, alter Herr.
    Und er: Es ist ein Liebesgedicht aus Glut, Blut, Mut und Wut. Und gut hab ich’s gelesen, weil ich Zeile für Zeile an meine Liebste dachte. Von ihren hundert Küssen, hat sie gesagt, seien fünfzig für dich. Sie war nämlich bei dir, soll ich dir sagen, in einer Ekstase wie vorher noch nie und nie mehr danach.
    Ich fühl’s. Ich schwör’s. Ich hab die Kraft. Sagte ich. Mir sei jetzt zugetragen worden, sagte ich dann, ich wolle nur noch hören, was mir schmeichle. Alles andere lasse mich kalt.
    Stimmt’s denn, fragte Zelter.
    Ja, sagte ich.
    Dann ist doch alles gut, mein Lieber. Wir müssen doch nicht auch noch selber gegen uns sein.
    Zelter streichelte mich. Als er ging, hatten Husten, Fieber, Brust- und Nierenweh keine Chance mehr.
    Diese Krankheit! Natürlich Marienbad, Karlsbad, die Familie L.! Ich las es in allen Gesichtern. Meine Entsagungsschau war durchgefallen. Er leidet also doch noch unter XYZ. Anders wäre es nicht erklärbar, dass er

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