Ein Lied für meine Tochter
Pastor Clive und seine ganze Gemeinde einen schieben.«
Lucys Augen sind so groß, dass ich das Weiße darin sehen kann. Sie beugt sich vor und schnappt erschrocken nach Luft, als es an der Tür klopft.
Vanessa steckt den Kopf herein. »Es ist Viertel vor neun«, sagt sie zu mir, und ich springe auf. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig im Gericht sein wollen.
»Lucy, ich muss jetzt los«, sage ich, aber sie schaut mich nicht an, sondern Vanessa. Sie denkt darüber nach, was Pastor Clive gerade gesagt hat, und setzt mein Leben genauso nahtlos zusammen, wie ich das gerade mit ihrem gemacht habe.
Lucy schnappt sich den Rucksack und rennt ohne ein weiteres Wort aus Vanessas Büro.
Mir war gar nicht klar, wie viel das Zeugendasein mit der Schauspielerei zu tun hat. Ich musste für die Befragung üben wie für einen Bühnenauftritt. Ich musste Texte auswendig lernen, und wie ich sie intoniere, und Angela hat mir das Kostüm ausgesucht: ein marineblaues Etuikleid und dazu eine weiße Strickjacke. Das ist so unglaublich konservativ, dass Vanessa in lautes Lachen ausgebrochen ist, als sie mich gesehen hat. Sie hat mich sogar ›Mama Baxter‹ genannt.
Ja, ich bin vorbereitet worden. Ja, technisch gesehen bin ich bereit. Und ja, ich bin Auftritte vor Publikum gewöhnt.
Doch andererseits gibt es einen Grund, warum ich auf der Bühne singe und spiele. Irgendwie kann ich mich in den Noten und Melodien verlieren, und dabei vergesse ich, wo ich bin. Wenn ich auf der Bühne singe und spiele, dann tue ich das in erster Linie für mich und nicht für das Publikum. Andererseits, als ich das letzte Mal als Schauspielerin auf der Bühne stand, da war ich zehn und habe einen Maisstängel im Zauberer von Oz gespielt, und bevor ich raus musste, habe ich dem Regisseur vor lauter Aufregung auf die Schuhe gekotzt.
»Mein Name ist Zoe Baxter«, sage ich, »und ich wohne in der 68 Garvin Street in Wilmington.«
Angela lächelt mich glücklich an, als hätte ich gerade eine komplexe Gleichung gelöst und nicht nur einfach meinen Namen und meine Adresse angegeben. »Wie alt sind Sie, Zoe?«
»Einundvierzig.«
»Können Sie dem Gericht sagen, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«
»Ich bin Musiktherapeutin«, sage ich. »Ich setze Musik in einer klinischen Umgebung ein, um Patienten bei der Schmerzbewältigung zu helfen, ihre Stimmung zu verändern oder sie wieder mit der Welt in Kontakt zu bringen. Manchmal arbeite ich in Altenheimen mit Menschen, die unter Demenz leiden, manchmal arbeite ich auf der Station für Brandverletzungen mit Kindern, deren Verband gewechselt werden muss, und manchmal arbeite ich an Schulen mit autistischen Kindern. Musiktherapie kann man auf die unterschiedlichste Art anwenden.«
Sofort denke ich an Lucy.
»Wie lange arbeiten Sie schon als Musiktherapeutin?«
»Seit einem Jahrzehnt.«
»Und wie viel verdienen Sie, Zoe?«
Ich lächele leicht. »Ungefähr achtundzwanzigtausend Dollar im Jahr. Sie werden nicht Musiktherapeutin, weil Sie vom Jetset träumen. Sie werden Musiktherapeutin, weil Sie den Menschen helfen wollen.«
»Ist das Ihre einzige Einnahmequelle?«
»Ich singe auch professionell. In Restaurants, Bars und Kaffeehäusern. Ich schreibe mein eigenes Material. Das reicht zwar nicht, um davon zu leben, aber es ist ein nettes Zubrot.«
»Waren Sie je verheiratet?«, fragt Angela.
Ich wusste, dass diese Frage kommt. »Ja. Ich war mit dem Kläger verheiratet, Max Baxter, neun Jahre lang, und jetzt bin ich mit Vanessa Shaw verheiratet.«
Ein Raunen geht durch die Zuschauer, als sie diese Aussage verdauen.
»Haben Sie und Mr. Baxter Kinder?«
»Als Paar hatten wir mit einigen Fruchtbarkeitsstörungen zu kämpfen. Wir hatten zwei Fehlgeburten und einen totgeborenen Sohn.«
Ich sehe ihn noch immer vor mir: blau und steif wie Marmor, Fingernägel, Augenbrauen und Wimpern fehlen noch. Ein unvollendetes Kunstwerk.
»Können Sie dem Gericht den Grund für Ihre Unfruchtbarkeit erklären und was Sie als Paar dagegen unternommen haben?«
»Ich habe das Polyzystische Ovarialsyndrom«, beginne ich. »Ich habe nie regelmäßig menstruiert, und so konnte ich auch nicht jeden Monat ovulieren. Außerdem hatte ich Tela submucosa, also eine unnatürliche Faserbildung in der Gebärmutter. Max’ Unfruchtbarkeit wiederum war genetisch bedingt. Als ich einunddreißig war, haben wir versucht, schwanger zu werden, doch vier Jahre lang ist gar nichts passiert. Mit fünfunddreißig haben wir
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