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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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tatsächlich loslassen.
    »Sie und ich, wir sind noch nicht fertig«, sagt Pastor Clive, und ich funkele ihn über die Schulter hinweg an.
    »Meinetwegen. Aber vor Gericht, nicht hier«, sage ich und führe Lucy in die Schule.
    Ich wette, Lucy hat sich noch nie so gefreut, im Schulgebäude zu sein. Sie ist knallrot im Gesicht. »Tief durchatmen«, sage ich zu ihr. »Alles wird gut.«
    Vanessa kommt aus der Verwaltung und schaut uns beide an. »Was ist passiert?«
    »Lucy und ich, wir brauchen einen Ort, wo wir wieder ein wenig zur Ruhe kommen können«, sage ich und versuche, so ruhig wie möglich zu klingen. Dabei würde ich am liebsten Angela anrufen oder einen Proktologen … irgendwen, der sich mit Arschlöchern wie Clive Lincoln auskennt.
    Vanessa zögert keine Sekunde. »Mein Büro. Nehmt euch so viel Zeit, wie ihr wollt.«
    Ich führe Lucy in die Verwaltung – in einen Trakt, in dem sie viel zu viel Zeit verbracht hat, wenn der Direktor sie mal wieder tadeln wollte – und in Vanessas gemütliches Büro. Dann schließe ich die Tür hinter uns. »Alles okay mit dir?«, frage ich.
    Lucy wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Ich wollte einfach, dass er das Maul hält«, murmelt sie.
    Inzwischen muss sie wissen, dass ich im Mittelpunkt des Sturms stehe. Die Zeitungen haben über den Prozess berichtet, und gestern Abend, als ich mir die Zähne geputzt habe, erschien mein Gesicht in den Lokalnachrichten. Und jetzt ist da diese Demonstration vor der Schule. Anfangs habe ich ja versucht, mein Privatleben vor ihr zu verbergen, um unsere Beziehung nicht zu gefährden, doch jetzt könnte ich genauso gut versuchen, das Meer mit einem Eimer leer zu schöpfen.
    Aber auch ohne die Medien wird Lucy davon gehört haben. Die Leute in ihrer Kirche haben mit Sicherheit über mich geredet, und jetzt ist sie völlig verwirrt.
    So verwirrt, dass sie Pastor Clive zu Boden geworfen hat.
    Ich ziehe einen Stuhl heran, damit sie sich setzen kann. »Glauben Sie ihm?«, fragt sie.
    »Offen gesagt, nein«, erwidere ich. »Für mich ist er eher ein Zirkusclown.«
    »Nein.« Lucy schüttelt den Kopf. »Ich meine … glauben Sie ihm?«
    Zuerst bin ich schockiert. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass jemand Pastor Clive für voll nehmen und seine Lügen nicht direkt durchschauen könnte. Aber andererseits, Lucy ist noch ein Teenager. Und sie geht in eine evangelikale Kirche und war ihr ganzes Leben lang dieser Rhetorik ausgesetzt.
    »Nein, ich glaube ihm nicht«, erkläre ich in ruhigem Ton. »Du?«
    Lucy zupft an einer Laufmasche ihrer schwarzen Leggins. »Da war dieser Junge, der letztes Jahr hier auf der Schule war. Jeremy. Er war in meiner Klasse. Wir wussten alle, dass er schwul war, obwohl er es nie gesagt hat. Das musste er auch gar nicht. Ich meine, schließlich haben alle anderen ihn oft genug Schwuchtel genannt.« Sie schaut mich an. »Kurz vor Weihnachten hat er sich im Keller seines Hauses erhängt. Seine dämlichen, beschissenen Eltern haben den schlechten Noten die Schuld dafür gegeben, die er in Sozialkunde bekommen hat.« Ein Funkeln liegt in Lucys Augen, hart wie Diamant. »Ich war so neidisch auf ihn, weil er endlich hier raus war. Er ist einfach so gegangen, und ich … ich schaffe es nicht, egal wie oft ich es auch versuche.«
    Ich habe einen seltsamen Geschmack auf der Zunge, und es dauert eine Weile, bis mir klar wird, was das ist: Angst. »Lucy, denkst du darüber nach, dir etwas anzutun?« Als sie nicht darauf antwortet, starre ich auf ihre Unterarme, um zu sehen, ob sie sich wieder geschnitten hat, doch bei diesem Wetter trägt sie lange Ärmel.
    »Wissen Sie, was ich wissen will? Was ich wirklich wissen will?«, sagt Lucy. »Wo zum Teufel ist Jesus? Wo zum Teufel ist er, wenn es nur noch Hass um einen gibt? Weißt du was, lieber Gott? Fick dich! Fick dich, du feige Sau! Kaum wird es mal ein wenig härter, da verpisst du dich!«
    »Lucy. Sprich mit mir. Hast du einen Plan?« Das ist eine ganz grundlegende Therapie bei Selbstmordgefährdung: Man muss den Patienten dazu bringen, über seine Absichten zu sprechen, nur dann kann man etwas dagegen tun. Ich muss wissen, ob Lucy Pillen in der Tasche hat, ein Seil im Schrank oder eine Waffe unter ihrer Matratze.
    »Kann jemand einfach so aufhören, Sie zu lieben, nur weil Sie nicht der sind, der Sie sein sollen?«
    Ihre Frage trifft mich wie ein Schlag. Unwillkürlich muss ich an Max denken. »Ich nehme an, ja«, gebe ich zu. Ist Lucy unglücklich verliebt?

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