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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Das wäre zumindest eine Erklärung für die Verschlechterung bei ihr in letzter Zeit. Wenn ich irgendetwas über dieses Mädchen gelernt habe, dann, dass sie immer erwartet, verlassen zu werden, und wenn das geschieht, dann gibt sie stets sich selbst die Schuld dafür. »War irgendwas mit einem Jungen?«, frage ich.
    Lucy dreht sich zu mir um, ihr Gesicht so offen wie eine Wunde. »Singen Sie«, bettelt sie. »Machen Sie, dass es aufhört.«
    Ich habe meine Gitarre nicht dabei. Meine Instrumente sind noch im Auto. All meine Aufmerksamkeit war auf die Demonstranten gerichtet. Das einzige Instrument, das mir jetzt zur Verfügung steht, ist meine Stimme.
    Also singe ich, langsam, a capella. Ich singe Halleluja , den alten Song von Leonard Cohen, ein Stück aus einer Zeit, als Lucy noch nicht geboren war.
    Mit geschlossenen Augen singe ich jene Art von Gebet, wie die Menschen es sprechen, wenn sie nicht mehr wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht. Ich hoffe. Ich hoffe für Lucy. Ich hoffe für Vanessa und mich. Ich hoffe für all die Außenseiter auf dieser Welt, die sich nicht immer anpassen wollen. Wir wollen einfach nur nicht immer die Schuld an allem bekommen.
    Als ich fertig bin, habe ich Tränen in den Augen. Lucy nicht. Ihr Gesicht ist wie versteinert.
    »Noch einmal«, befiehlt sie mir.
    Ich singe den Song zum zweiten Mal … zum dritten …
    Beim sechsten Mal beginnt Lucy, beim Refrain zu schluchzen, und vergräbt das Gesicht in den Händen. »Es geht nicht um einen Jungen«, beichtet sie.
    Als ich noch klein war, habe ich von einer entfernten Verwandten das seltsamste Weihnachtsgeschenk bekommen, das man sich vorstellen kann: einen Zwanzig-Dollar-Schein in einem Puzzlekästchen. Man musste die unterschiedlichsten Knöpfe drücken und Hebel ziehen, bis man die richtige Reihenfolge gefunden hatte. Erst dann öffnete sich das Kästchen, und man konnte die Beute einheimsen. Ich wollte das Ding einfach mit einem Hammer zerschlagen, doch meine Mutter hat mich davon überzeugt, dass ich das Rätsel schon lösen würde, und als es so weit war, hatte ich das Gefühl, dass eigentlich alles ganz einfach war. Zack, zack, zack, und schon öffnete sich eine Klappe nach der anderen, als wären sie nie verschlossen gewesen.
    Das Gleiche geschieht in diesem Augenblick. Ein Vorhang wird zurückgezogen und ein Satz verändert, sodass er eine neue Bedeutung enthüllt: die Selbstmordversuche, Pastor Clives Rede, Lucys wütender Angriff, Jeremy. Kann jemand einfach so aufhören, Sie zu lieben?
    Es geht nicht um einen Jungen , hat Lucy gesagt.
    Vielleicht geht es ja um ein Mädchen.
    Wenn es eine grundlegende Regel in der Musiktherapie gibt, dann folgende: Man tritt an einem bestimmten Punkt in das Leben eines Patienten und verlässt ihn an einem anderen wieder. Man ist als Therapeut nur der Katalysator. Eine Konstante. Man ist ein unveränderlicher Teil in der Gleichung. Und auf gar keinen Fall spricht man über sich selbst. Man ist ausschließlich für den Patienten da.
    Deshalb habe ich auch nicht geantwortet, als Lucy mich gefragt hat, ob ich verheiratet sei.
    Das ist keine Freundschaft. Das habe ich Lucy bereits gesagt. Das ist eine professionelle Beziehung.
    Doch das war, bevor meine Zukunft zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion geworden ist. Das war, bevor ich in einem Gerichtssaal saß und fremde Blicke sich in meinen Rücken bohrten. Das war, bevor ich mir anhören musste, wie ein Pastor, den ich nicht kenne, mich als Verdammte bezeichnet hat. Bevor mir jemand auf der Damentoilette eine Karte unter der Tür durchschob, auf der stand: Ich bete für Sie, meine Liebe.
    Aber wenn ich das schon ertragen muss, weil ich zufälligerweise eine Frau liebe, dann soll das zumindest jemand anderem nutzen. Ich werde die Kraft, die mir das verleiht, weitergeben.
    »Lucy«, sage ich leise. »Du weißt, dass ich homosexuell bin, nicht wahr?«
    Sie reißt den Kopf hoch. »Warum … Warum sagen Sie mir das?«
    »Ich weiß nicht, was du denkst oder fühlst, aber du sollst wissen, dass das vollkommen normal ist.«
    Sie starrt mich stumm an.
    »Kennst du das Gefühl, als seist du Alice im Wunderland, wenn du in einen Grundschulklassenraum gehst und dich auf die winzigen Stühle setzt? Sie sind einfach zu klein, und man weiß, dass man nie wieder so klein sein wird. Es ist einfach vorbei. Ein Coming-out fühlt sich ähnlich an. Man schaut zurück und kann sich nicht mehr vorstellen, noch einmal zurückzugehen … auch nicht, wenn

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