Ein Lied für meine Tochter
auch wenn ich das Glück hatte, mich überhaupt dazu durchringen zu können. Allerdings ist es nicht gerade schön, das alles noch mal zu durchleben.«
»Dann erklär mir mal Folgendes«, sagt Vanessa. »Wie kommt es, dass Max davon wusste und ich nicht?«
»Bist du etwa eifersüchtig? Bist du wirklich eifersüchtig darauf, dass ich Max etwas Fürchterliches aus meiner Vergangenheit erzählt habe?«
»Ja, das bin ich«, gibt Vanessa zu. »Okay? Ich bin eine selbstsüchtige Schlampe, die sich wünscht, dass ihre Frau ihr gegenüber genauso offen ist wie gegenüber dem Kerl, mit dem sie mal verheiratet war.«
»Und ich wünsche mir, dass meine Frau ein wenig Mitgefühl zeigt«, erwidere ich. »Vor allem angesichts der Tatsache, dass Wade Preston mich gerade durch den Dreck gezogen hat und ich jetzt für die gesamte religiöse Rechte der Staatsfeind Nummer eins bin.«
»Offenbar«, entgegnet Vanessa, »hast du noch nicht ganz kapiert, was das Wörtchen ›wir‹ wirklich bedeutet.«
»Na, toll!«, schreie ich, und die Tränen treten mir in die Augen. »Du willst also alles über meine Abtreibung wissen, ja? Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich habe auf der gesamten Fahrt in die Klinik geweint, und auch auf dem Heimweg nicht damit aufgehört. Ich musste mich zwei Wochen lang von Nudeln in Tomatensoße ernähren, weil ich meine Mutter nicht um Geld bitten wollte, und ich habe ihr erst davon erzählt, als ich im Sommer nach Hause gekommen bin. Ich habe die Medikamente nicht genommen, die mich vor den anschließenden wehenartigen Krämpfen bewahren sollten, denn ich hatte das Gefühl, den Schmerz zu verdienen. Und der Kerl, mit dem ich damals ausgegangen bin – der Kerl, der zusammen mit mir beschlossen hat, eine Abtreibung sei das Beste –, hat einen Monat später mit mir Schluss gemacht. Und obwohl mir jeder Arzt, den ich seitdem wegen meiner Fruchtbarkeitsstörungen aufgesucht habe, gesagt hat, das habe nichts mit dem Eingriff damals zu tun, habe ich das nie geglaubt. Und? Wie war das? Bist du jetzt glücklich? Ist es das, was du wissen wolltest?«
Als ich fertig bin, weine ich so heftig, dass ich mich selbst kaum noch verstehen kann. Mir läuft die Nase, und das Haar hängt mir ins Gesicht, und ich will, dass Vanessa mich berührt, dass sie mich in die Arme nimmt und mir sagt, dass alles wieder gut wird, doch stattdessen weicht sie einen Schritt zurück. »Was hast du mir sonst noch verschwiegen?«, fragt sie und lässt mich einfach in der Tür des Hauses stehen, das sich nicht länger wie mein Heim anfühlt.
Der eigentliche Eingriff hat nur sechs Minuten gedauert.
Ich weiß das. Ich habe mitgezählt.
Vor dem Eingriff sind sie alles mit mir durchgegangen. Sie haben mich gründlich untersucht. Sie haben mir ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie haben mir Medikamente gegeben, um meinen Gebärmutterhals zu öffnen. Und sie haben mir Formulare gegeben, die ich unterschreiben musste.
Das hat ein paar Stunden gedauert.
Ich erinnere mich daran, wie eine Krankenschwester meine Füße auf dem Stuhl festgeschnallt und mir gesagt hat, ich solle mich entspannen. Ich erinnere mich an das Glänzen des Spekulums, als die Ärztin es aus dem sterilen Tuch wickelte. Und ich erinnere mich an das Geräusch der Saugpumpe.
Die Ärztin nannte es nie Baby. Sie nannte es noch nicht einmal einen Fötus. Sie bezeichnete es nur als Gewebe. Ich erinnere mich daran, die Augen geschlossen und an ein zerknülltes Kosmetiktuch gedacht zu haben, das man einfach in den Mülleimer wirft.
Auf der Rückfahrt zum Campus habe ich die Hand auf den Schaltknüppel des alten Dodge Dart gelegt, den mein Freund gefahren hat. Ich wollte einfach seine Hand auf meiner spüren, doch er hat sie einfach weggeschoben. »Zoe«, sagte er. »Lass mich einfach fahren.«
Obwohl wir erst zwei Uhr nachmittags hatten, als ich wieder in mein Zimmer kam, habe ich mir mein Nachthemd angezogen. Ich habe mir General Hospital angeschaut und mich auf Frisco und Felicia konzentriert, als würde ich später einen Test über sie schreiben. Ich habe ein ganzes Glas Erdnussbutter gegessen.
Trotzdem habe ich mich weiter leer gefühlt.
Wochenlang litt ich unter Albträumen. Ich träumte, dass ich den Fötus weinen hörte. Ich träumte, wie ich dem Geräusch auf den Hof unter meinem Fenster folgte, mich in meinem Nachthemd auf den Boden kniete und mit bloßen Händen in der Erde grub. Ich träumte davon, wie ich mir die Fingernägel an Steinen abbrach und
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