Ein Lied für meine Tochter
schließlich etwas freilegte:
Cindy, die Puppe, die ich an dem Tag vergraben hatte, als mein Vater gestorben war.
Ich kann mich in dieser Nacht nicht entspannen. Ich höre, wie Vanessa sich über mir im Schlafzimmer bewegt, und als es dann schließlich still wird, nehme ich an, dass sie eingeschlafen ist. Ich setze mich an mein Keyboard und spiele. Ich lasse mich von der Musik umfangen wie von einem Verband. Note für Note nähe ich mich wieder zusammen.
Ich spiele so lange, bis ich Krämpfe in den Fingern bekomme. Ich singe, bis meine Stimme heiser wird und ich kaum noch Luft bekomme. Als ich schließlich aufhöre, lege ich den Kopf auf die Tasten. Die Stille im Raum wiegt schwer und drückt mich nieder.
Dann höre ich Applaus.
Ich drehe mich um und sehe Vanessa in der Tür stehen. »Wie lange stehst du schon da?«, frage ich.
»Lange genug.« Sie setzt sich neben mich auf die Klavierbank. »Genau das hat er mit seiner Aktion bewirken wollen, weißt du?«
»Wer?«
»Wade Preston. Er wollte uns auseinanderbringen.«
»Das will ich nicht«, gebe ich zu.
»Ich auch nicht.« Sie zögert. »Ich habe oben ein wenig gerechnet.«
»Kein Wunder, dass du so lange weg warst«, murmele ich. »Du bist hundsmiserabel in Mathe.«
»Ich habe mir ausgerechnet, wenn du neun Jahre mit Max zusammen warst, dann möchte ich mindestens neunundvierzig Jahre mit dir zusammen sein.«
»Nur neunundvierzig?«
»Komm schon. Das ist eine schöne runde Zahl.« Vanessa schaut mich an. »Wenn du neunzig bist, dann hast du mehr als dein halbes Leben mit mir verbracht und mit Max nur zehn Prozent. Versteh mich nicht falsch … Ich bin noch immer eifersüchtig auf diese neun Jahre, denn die werde ich nie mit dir verbracht haben, egal was ich auch tue. Aber wenn du damals nicht mit Max zusammengelebt hättest, vielleicht wärest du dann jetzt nicht hier bei mir.«
»Ich habe nicht versucht, dir etwas zu verheimlichen«, sage ich.
»Das ist egal«, erwidert Vanessa. »Du solltest zumindest die Möglichkeit dazu haben, wenn du das willst. Auch das gehört zu einer gesunden Beziehung. Wie auch immer … Egal, was du mir erzählst, nichts wird je etwas an der Tatsache ändern, dass ich dich liebe.«
»Ich war früher mal ein Mann«, erkläre ich mit ernstem Gesicht.
»Okay, das war jetzt doch zu viel.« Vanessa lacht, beugt sich vor und küsst mich. Dann nimmt sie mein Gesicht in die Hände. »Ich weiß, dass du stark genug bist, um das allein durchzuziehen, aber das musst du nicht. Und ich verspreche dir, mich auch nie wieder so dämlich zu benehmen.«
Ich lege den Kopf auf ihre Schulter. »Tut mir leid«, sage ich, und meine Entschuldigung ist so offen, ehrlich und grenzenlos wie der Nachthimmel.
Vanessa
Meine Mutter hat immer gesagt, eine Frau ohne Lippenstift sei wie ein Kuchen ohne Zuckerguss. Ich habe sie nie ohne ihre typische Farbe rausgehen sehen: Forever After. Jedes Mal, wenn wir in eine Drogerie gingen, um Aspirin, Tampons oder Asthmamedizin zu holen, hat sie sich ein paar Lippenstifte mitgenommen und in ihrer Kommode verstaut. Irgendwann war eine ganze Schublade voller Lippenstifte. »Ich glaube nicht, dass die Firma irgendwann nicht mehr liefern kann«, habe ich ihr immer gesagt, aber natürlich wusste sie es besser. Im Jahr 1982 stellte die Firma dann die Produktion von Forever After ein. Glücklicherweise hatte meine Mutter noch einen Vorrat, der für die nächsten zehn Jahre reichte. Als sie dann im Krankenhaus lag und so voller Drogen gepumpt wurde, dass sie sich kaum noch an ihren Namen erinnern konnte, habe ich sie immer geschminkt. Und als sie ihren letzten Atemzug getan hat, da hat sie Forever After getragen.
Meine Mutter hätte es ziemlich verrückt gefunden, wenn sie gewusst hätte, dass ich zum Schluss ihr kosmetischer Engel war, zumal ich schon vor ihrem Mascara geflohen bin, kaum dass ich laufen konnte. Während andere kleine Mädchen es liebten, ihre Mütter nachzuahmen und sich Farbe ins Gesicht zu schmieren, konnte ich nur Seife auf meiner Haut ertragen. Nur einmal habe ich meine Mutter mit einem Eyeliner an mich herangelassen, und das war, als sie mir damit fürs Schultheater einen Schnurrbart gemalt hat.
Ich erzähle Ihnen das, damit Sie verstehen, was es für mich bedeutet, dass ich jetzt um sieben Uhr morgens vor dem Spiegel stehe und Gefahr laufe, mir mit Zoes Eyeliner das Auge auszustechen. Dann verziehe ich das Gesicht, um mir die Lippen zu schminken. Wenn Wade Preston und Richter O’Neill das
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