Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
das Gefühl, als würde ein Netz über uns geworfen, eine Erinnerung daran, wie Zoe mit dem Krankenwagen von ihrer eigenen Babyparty entführt worden ist. Ich fummele an meinem Becher herum. Obwohl ich täglich Kinder und Jugendliche psychologisch betreue, fühle ich mich unbehaglich dabei, mit Zoe hier zu sein. Genau genommen weiß ich noch nicht einmal, warum ich sie überhaupt gefragt habe, ob sie einen Kaffee mit mir trinken will. Es ist ja nicht so, als würden wir uns gut kennen.
    Vor einigen Monaten hatte ich Zoe angeheuert, um mit einem autistischen Jungen zu arbeiten. Er war schon sechs Jahre in unserem Schulbezirk, und soweit ich wusste, hatte er in all der Zeit kein einziges Wort mit einem Lehrer gesprochen. Es war seine Mutter, die von der Musiktherapie gehört hatte, und sie hatte mich gebeten, einen entsprechenden Therapeuten für ihren Sohn zu finden. Ich gebe gerne zu, dass ich nicht viel erwartete, als ich Zoe kennenlernte. Sie sah ein wenig fehl am Platze aus, ein Kind der Siebziger, das irgendwie im neuen Jahrtausend gelandet war. Doch in nur einem Monat hatte Zoe den Jungen so weit, dass er improvisierte Symphonien mit ihr spielte. Die Eltern hielten Zoe für ein Genie, und mein Direktor betrachtete es als brillant, dass ich sie gefunden hatte.
    »Schauen Sie«, beginne ich nach langem, unangenehmem Schweigen, »ich weiß nicht wirklich, was ich wegen des Babys sagen soll.«
    Zoe schaut mich an. »Das geht allen so.« Sie fährt mit dem Finger über den Plastikrand des Kaffeebechers. Ich denke mir, das war’s, und ich schaue auf meine Uhr und will gerade bemerken, wie spät es schon ist, als sie wieder spricht. »Es gibt im Krankenhaus jemanden, der alle Todesfälle bearbeitet. Sie ist in mein Zimmer gekommen – hinterher – und hat mich und Max gefragt, wo man den Leichnam hinbringen solle. Sie hat gefragt, ob wir eine Autopsie machen lassen wollen, ob wir schon wüssten, was für einen Sarg wir wollten, oder ob wir uns für eine Einäscherung entschieden hätten. Sie hat gesagt, wir könnten ihn auch mit nach Hause nehmen, um ihn – ich weiß nicht – im Garten zu beerdigen.« Wieder hebt Zoe den Blick und schaut mich an. »Manchmal habe ich noch immer Albträume deswegen. Dann sehe ich im Geiste vor mir, wie wir ihn im Garten bestatten, und wenn der Schnee im Frühling schmilzt, komme ich eines Tages heraus, und kleine Knochen ragen aus der Erde.« Sie tupft sich die Augen mit einer Serviette ab. »Tut mir leid. Ich rede eigentlich nicht darüber. Nie.«
    Ich weiß, dass sie sich mir öffnet. Aus dem gleichen Grund kommen auch Kids zu mir und beichten, dass sie sich nach jedem Essen übergeben oder sich mit einer Rasierklinge den Arm anritzen, wenn sie allein in der Dusche sind. Manchmal ist es schlicht einfacher, mit einem Fremden über solche Dinge zu reden. Das Problem ist nur, hat man einem Menschen erst einmal sein Herz ausgeschüttet, verliert diese Person ihre Anonymität.
    Einmal habe ich Zoe bei einer Therapiesitzung mit dem autistischen Schüler beobachtet. In der Musiktherapie muss man den Patienten abholen, hat sie mir erklärt. Man darf ihn zu nichts zwingen. Und als der Junge kam, hat sie weder Augenkontakt zu ihm hergestellt noch ihn gezwungen, mit ihr zu interagieren. Stattdessen nahm sie ihre Gitarre, begann zu spielen und sang vor sich hin. Der Junge setzte sich ans Klavier und ließ die Finger in wütendem Arpeggio über die Tasten fliegen. Und immer wenn der Junge eine Pause eingelegt hat, antwortete Zoe mit einem ebenso kraftvollen Akkord. Zuerst ging der Junge nicht darauf ein, was sie tat, doch dann legte er häufiger und gezielt Pausen ein und wartete darauf, dass Zoe musikalisch mit ihm interagierte. Schließlich merkte ich, dass sie sich auf diese Art unterhielten. Erst sagte er einen Satz, dann sie. Sie benutzten nur eine andere Sprache als die, die ich kannte.
    Vielleicht ist es ja das, was auch Zoe Baxter jetzt braucht: eine neue Art der Kommunikation. Um nicht länger auf den Grund eines Schwimmbeckens sinken zu müssen. Damit sie wieder lächeln kann.
    Um ganz offen zu sein: Ich bin die Art von Mensch, die ein kaputtes Möbelstück kauft, weil sie sicher ist, es wieder reparieren zu können. Ich hatte einmal einen Greyhound aus dem Tierheim. Ich bin eine pathologische Allesrepariererin, was auch meine Berufswahl als Schulpsychologin erklärt, denn reich wird man damit beim besten Willen nicht. Also kommt es nicht wirklich überraschend für mich, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher