Ein Lied für meine Tochter
auch bei Zoe Baxter sofort den Reflex habe, sie wieder zusammensetzen zu wollen.
»Jemand, der die Todesfälle bearbeitet …« Ich schüttele den Kopf. »Und da dachte ich, ich hätte einen miesen Job.«
Zoe hebt den Blick, und ein Schnauben kommt aus ihrer Kehle, und sie nimmt sofort die Hand vor den Mund.
»Es ist schon okay, wenn Sie lachen«, sage ich in sanftem Ton.
»Irgendwie kommt mir das nicht so vor«, erwidert sie. »Das fühlt sich an, als wäre nichts von alledem von Bedeutung für mich.« Sie schüttelt den Kopf, und plötzlich hat sie Tränen in den Augen. »Tut mir leid. Sie sind heute Morgen sicher nicht ins YMCA gekommen, um sich das anzuhören. Ich bin wirklich eine tolle Verabredung.«
Ich bin wie erstarrt. Was weiß sie? Was hat sie gehört?
Warum ist das überhaupt von Bedeutung?
Man sollte meinen, mit meinen vierunddreißig Jahren wäre es mir allmählich egal, was die Leute denken. Aber wie heißt es doch so schön? Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.
»Es ist gut, dass wir uns getroffen habe«, höre ich mich selbst sagen. »Ich wollte Sie sowieso anrufen.«
Wirklich? , denke ich und frage mich, was ich damit bezwecken will.
»Wirklich?«, erwidert Zoe.
»Ich habe da ein Mädchen, das unter Depressionen leidet«, sage ich. »Sie war immer wieder im Krankenhaus und kommt nun in der Schule nicht mehr mit. Ich wollte Sie bitten, ein wenig mit ihr zu arbeiten.« Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht an Zoe und ihre Musiktherapie gedacht, zumindest nicht in Zusammenhang mit Lucy DuBois. Doch jetzt, wo ich es gesagt habe, ergibt es sogar Sinn. Bis jetzt hat nichts bei dem Mädchen funktioniert, und sie hat schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Jetzt müssen ihre Eltern, die so konservativ sind, dass sie noch nicht einmal einer Psychotherapie zugestimmt haben, nur noch davon überzeugt werden, dass Musiktherapie kein moderner Voodoo ist.
Zoe zögert, doch ich sehe, dass sie sich mein Angebot überlegt. »Vanessa, ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht gerettet werden muss.«
»Ich rette Sie doch auch gar nicht«, erwidere ich. »Ich bitte Sie, jemand anderen zu retten.«
Zu diesem Zeitpunkt denke ich noch, ich meine Lucy. Mir ist nicht klar, dass ich mich meine.
Ich bin in den südlichen Vorstädten von Boston aufgewachsen. Damals bin ich immer auf meinem mit Glitzerstaub verzierten Bonanzarad die Straßen in meinem Viertel auf und ab gefahren und habe mir gemerkt, wo die Mädchen wohnten, die ich für hübsch hielt. Mit sechs Jahren war ich fest davon überzeugt, dass ich Katie Whittaker mit ihrem sonnengelben Haar und all den Sommersprossen heiraten und bis ans Ende unserer Tage glücklich mit ihr zusammenleben würde.
Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, wann genau mir bewusst geworden ist, dass das nicht das war, wovon auch die anderen Mädchen träumten. Also verkündete ich im zweiten Schuljahr brav, dass auch ich mich in Jared Tischbaum verknallt hätte, denn der war ja so cool, weil er in der Fußballmannschaft spielte und jeden Tag dieselbe Jeansjacke trug. Er zog sie nie aus, weil der Schauspieler Robin Williams sie irgendwann einmal durch Zufall auf dem Flughafen berührt hatte.
Meine Jungfräulichkeit habe ich eines Nachts durch meinen ersten Freund, Ike, im Gästebunker auf dem Baseballplatz verloren. Er war süß und zärtlich und hat mir gesagt, wie schön ich sei – mit anderen Worten: Er hat alles richtig gemacht. Trotzdem bin ich hinterher nach Hause gegangen und habe mich gefragt, warum die Leute immer so einen Aufstand machen, wenn es um Sex geht. Es war rein mechanisch gewesen, wir hatten viel geschwitzt, doch obwohl ich Ike wirklich geliebt habe, hat etwas gefehlt.
Meine beste Freundin, Molly, war die Person, der ich das anvertraut habe. Nach Mitternacht hing ich mit ihr am Telefon und sezierte meine Beziehung zu Ike. Mit Molly habe ich für Geschichtstests gelernt und wollte dann nie gehen. Ich habe mit ihr Shoppingtouren am Samstag geplant und dann voller Ungeduld die Tage bis zum Wochenende gezählt. Und gemeinsam machten wir uns über all die oberflächlichen Mädels lustig, die keine Zeit mehr für ihre weiblichen Freunde hatten, weil sie jetzt mit Jungs ausgingen. Wir schworen uns, auf ewig unzertrennlich zu sein.
Im Oktober 1998, in meinem ersten Jahr auf dem College, wurde Matthew Shepard totgeprügelt, ein junger, schwuler Student der University of Wyoming. Ich kannte Matthew Shepard nicht. Ich war auch nicht politisch
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