Ein Lied für meine Tochter
Wohnheimzimmer kam, weil sie ihn in flagranti mit einer anderen erwischt hatte, bat ich sie herein, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Irgendwie veranlasste ihr Weinen mich dazu, sie zu küssen, und wir hatten zehn wunderbare Tage zusammen, bis sie wieder zu dem Kerl zurückkehrte, der sie wie Dreck behandelte. Es hat Spaß gemacht, Vanessa , hat sie gesagt. Aber irgendwie ist das nichts für mich.
Sie müssen wissen, dass ich viele heterosexuelle Freundinnen habe, Frauen, zu denen ich mich nie hingezogen gefühlt habe, mit denen ich aber trotzdem essen gehe oder sonst was mache. Doch im Laufe der Jahre hat es ein paar gegeben, die ein kleines Feuer in mir entfacht haben, und jedes Mal habe ich mich gefragt: Was wäre, wenn? Das sind diejenigen, von denen ich mich bewusst fernhalten muss, denn ich bin nicht masochistisch veranlagt. Den Spruch Es ist nicht deine Schuld, sondern meine kann man schließlich nicht allzu oft ertragen.
Ich bin kein Übungsgelände. Ich will kein Experiment sein. Ich habe kein Interesse daran herauszufinden, ob mein persönlicher Charme ausreicht, um jemanden umzudrehen.
Ich glaube fest daran, dass ich so geboren worden bin, wie ich bin, und deshalb muss ich auch daran glauben, dass das bei Heterosexuellen genauso ist. Aber ich glaube auch daran, dass man sich in einen Menschen verliebt – ob das nun ein Mann oder eine Frau ist, sei einmal dahingestellt. Ich habe mich oft gefragt, was ich wohl tun würde, wenn die größte Liebe meines Lebens männlich wäre. Weshalb fühlt man sich zu jemandem hingezogen: Weil er ist, wer er ist oder was er ist?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich einen Punkt in meinem Leben erreicht habe, an dem ich eine Beziehung für immer und ewig möchte und nicht einfach nur eine Lebensabschnittspartnerin.
Ich weiß, dass die erste Person, die ich geküsst habe, nicht annähernd so bedeutend sein wird wie die letzte.
Und ich weiß auch, dass es sich nicht lohnt, von Dingen zu träumen, die einfach nicht passieren können.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und bekomme nichts geschafft.
Alle zwei Minuten schaue ich auf die Uhr im Computer. Wir haben Viertel vor eins, und das heißt, dass Zoe die Operation schon längst hinter sich haben müsste.
Ihre Mom ist im Krankenhaus. Ich habe auch darüber nachgedacht hinzufahren, aber ich wusste nicht, ob das nicht vielleicht komisch ausgesehen hätte. Immerhin hat Zoe mich ja nicht gebeten zu kommen. Und ich wollte mich auch nicht aufdrängen, wenn sie mit ihrer Mom allein sein wollte.
Aber ich frage mich, ob sie mich nur deshalb nicht gebeten hat, sie zu besuchen, weil sie nicht wollte, dass ich mich dazu verpflichtet fühle.
Was im Übrigen nicht der Fall gewesen wäre.
12:46 Uhr.
Letztes Wochenende sind Zoe und ich ins Kunstmuseum der RISD gefahren, der Rhode Island School of Design. Bei der aktuellen Ausstellung handelte es sich um einen leeren Raum mit einer Reihe von Kartons an den Rändern. Ich setzte mich auf einen der Kartons und wurde sofort von einem Museumswärter aus dem Gebäude gescheucht, noch bevor mir klar werden konnte, dass ich mich unbeabsichtigt zu einem Teil des Kunstwerks gemacht hatte. »Vielleicht bin ich ja ein Banause«, habe ich gesagt, »aber ich mag Kunst auf Leinwand lieber.«
»Beschwer dich bei Duchamp«, hatte Zoe erwidert. »Der Kerl hat sich 1917 ein Urinal geschnappt, es signiert und unter dem Titel Fountain als Kunstwerk ausgestellt.«
»Das ist doch ein Witz, oder?«
»Nein«, hatte Zoe geantwortet. »Erst vor Kurzem haben fünfhundert Experten es zum einflussreichsten Kunstwerk des 20. Jahrhunderts gewählt.«
»Ich nehme an, damit wollen die Künstler zeigen, dass alles Kunst sein kann – wie ein Urinal oder ein Pappkarton –, solange man es nur in ein Museum steckt, korrekt?«
»Ja. Und deshalb«, hatte Zoe mit ernstem Gesicht gesagt, »werde ich meine Gebärmutter auch der RSID spenden.«
»Aber vergiss die Kartons nicht. Und ein Fenster. Dann kannst du das Ganze Gebärmutter mit Aussicht nennen.«
Und Zoe hatte gelacht, wenn auch ein wenig wehmütig. »Ich dachte da eher an was ganz Klassisches wie Uterus von Milo oder so«, sagte sie, und bevor sie sich in ihren eigenen Gedanken verlieren konnte, habe ich sie auf die Straße hinaus und zu einem Laden gezerrt, wo es einfach den besten Latte gibt. Und der Milchschaum dort ist wirklich Kunst.
12:50 Uhr.
Ich frage mich, ob Dara mich wohl anrufen wird, wenn Zoe aus dem OP kommt. Ich meine, es ist
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