Ein Lied für meine Tochter
doch nur natürlich, dass ich wissen will, ob sie es gut überstanden hat. Ich sage mir selbst, dass es noch lange nicht heißt, dass etwas nicht stimmt, nur weil ich noch nichts von ihr gehört habe.
Nur leider gehöre ich zu der Art Mensch, die sich immer das Schlimmste ausmalt. Wenn Freunde irgendwohin fliegen, dann schaue ich online nach, ob ihr Flug auch gelandet ist, nur um sicherzugehen, dass sie nicht abgestürzt sind. Und wenn ich die Stadt verlasse, stecke ich aus Angst vor einer Spannungsspitze alle elektrischen Geräte aus.
Ich rufe die Homepage des Krankenhauses auf, in dem Zoe operiert wird, tippe das Wort ›Hysterektomie‹ bei Google ein und schaue mir die möglichen Komplikationen an.
Als das Telefon klingelt, stürze ich mich förmlich darauf. »Hallo?«
Aber es ist nicht Dara und auch nicht Zoe. Die Stimme klingt dünn und so leise, dass man sie kaum verstehen kann. »Ich rufe nur an, um Lebewohl zu sagen«, murmelt Lucy DuBois.
Das ist das Mädchen, von dem ich Zoe vor ein paar Wochen erzählt habe, das Mädchen, das nun schon seit einiger Zeit unter Depressionen leidet. Das ist nicht das erste Mal, dass sie mich in einer Krise angerufen hat.
»Lucy?«, brülle ich ins Telefon. »Wo bist du?« Ich höre einen Zug im Hintergrund und etwas, das wie Kirchenglocken klingt.
»Sagen Sie der Welt«, lallt Lucy, »dass ich ihr ein schönes Fuck You wünsche.«
Ich schnappe mir die heutige Anwesenheitsliste, auf der Lucy DuBois prophetisch als fehlend vermerkt ist.
Es ist etwas ziemlich Bemerkenswertes, jemandem das Leben zu retten.
Ausgehend von den Zügen und den Glocken, die ich gehört hatte, hatte die Polizei ihre Suche auf das Umfeld einer alten Holzbrücke konzentrieren können, hinter der eine katholische Kirche liegt, wo um ein Uhr die Messe gefeiert wird. Lucy lag unter einem Brückenbogen, neben sich eine Flasche Gatorade und eine Packung Tylenol.
Ich traf ihre Mutter im Krankenhaus. Nachdem man ihr den Magen ausgepumpt hatte, war Lucy wie alle Selbstmordkandidaten erst einmal in die geschlossene Psychiatrie zur Überwachung gebracht worden. Man muss abwarten, wie viel Schaden sie ihrer Leber und ihren Nieren zugefügt hat.
Sandra DuBois sitzt im Wartezimmer neben mir auf einem Stuhl. »Sie wollen sie ein paar Tage unter Beobachtung halten«, sagt sie und zwingt sich, mir in die Augen zu schauen. »Miss Shaw, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Bitte«, sage ich, »ich heiße Vanessa. Und ich weiß, wie Sie mir danken können: Lassen Sie mich Ihrer Tochter helfen.«
Immer wieder hatte ich in den letzten Monaten versucht, Lucys Eltern davon zu überzeugen, dass eine Musiktherapie eine wissenschaftlich anerkannte Möglichkeit sei, um zu ihrer Tochter durchzudringen, die sich immer mehr isoliert. Bis jetzt hatten sie jedoch nicht eingewilligt. Sandra und ihr Mann sind in der Eternal Glory Church engagiert, und sie betrachten psychische Krankheiten nicht als so schwerwiegend wie physische. Hätte man eine Blinddarmentzündung bei Lucy diagnostiziert, dann hätten sie verstanden, dass eine Behandlung notwendig ist. Aber Depressionen sind für sie etwas, das man mit einer Nacht Schlaf und Bibelstudien kurieren kann.
Ich frage mich, wie viel Selbstmordversuche es noch braucht, bis sie ihre Meinung ändern.
»Mein Mann glaubt nicht an Psychiater …«
»Das haben Sie mir bereits gesagt.« Er ist noch nicht einmal hier, und das obwohl seine Tochter nur knapp dem Tod entronnen ist. Offensichtlich ist er auf Geschäftsreise. »Ihr Mann muss das ja auch nicht unbedingt erfahren. Es könnte ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Singen etwas bewirken kann …«
» So singet dem Herrn ein frohes Lied «, zitiere ich, und Mrs. DuBois blinzelt mich an, als würde ich endlich ihre Sprache sprechen. »Schauen Sie, Mrs. DuBois: Ich weiß nicht, was Lucy wirklich helfen kann, aber alles, was wir bis jetzt versucht haben, hat nicht funktioniert. Und auch wenn eine ganze Gemeinde für Ihre Tochter betet, kann es doch nicht schaden, einen Plan B zu haben, oder?«
Die Frau bläht die Nüstern, und ich bin sicher, die unsichtbare Grenze, an der sich Professionalität und persönlicher Glauben berühren, überschritten zu haben. »Diese Musiktherapeutin …«, sagt Sandra schließlich. »Sie hat schon mit Heranwachsenden gearbeitet, nicht wahr?«
»Ja.« Ich zögere. »Sie ist eine Freundin von
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