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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sein.
    Und da trifft es mich wie ein Schlag: die Erkenntnis, dass das, was ich bis jetzt Freundschaft genannt habe, in Wahrheit sehr viel mehr ist – zumindest von meiner Warte aus. Und mir wird klar, dass ich das, was ich von Zoe haben will, nie bekommen werde.
    Ich war schon oft an diesem Punkt, und ich weiß, wie ich damit umgehen, wie ich meine Gefühle überspielen muss. Immerhin habe ich lieber wenig von ihr als gar nichts.
    Also rücke ich von Zoe weg, lasse meinen Arm sinken und schaffe so einen gewissen Abstand zwischen uns. »Nun ja«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln, »wie es aussieht, wirst du mit mir vorliebnehmen müssen.«



Zoe
    Meine erste und beste Freundschaft war aufgrund von räumlicher Nähe entstanden. Ellie lebte auf der anderen Straßenseite in einem Haus, das immer ein wenig müde wirkte mit seinen durchhängenden Fensterbänken und den alten Fensterläden. Ihre Mutter war Single, genau wie meine, nur dass sie nicht vom Schicksal dazu verdammt worden war, sie hatte sich dieses Leben selbst ausgesucht. Ellies Mutter arbeitete bei einer Versicherungsgesellschaft und trug immer flache Schuhe und strenge Kostüme im Büro. Aber ich erinnere mich daran, dass sie sich immer künstliche Wimpern angeklebt und das Haar zerzaust hatte, bevor sie am Wochenende in irgendwelche Tanzschuppen ging.
    Ich war vollkommen anders als Ellie, die schon mit elf Jahren einfach atemberaubend war. Der Sonnenschein fing sich in ihren blonden Locken, und ihre langen Beine waren immer braun gebrannt. In ihrem Zimmer herrschte stets Chaos. Überall lagen Haufen von Kleidern, Büchern und Plüschtieren auf dem Boden, und selbst auf dem Bett hatten wir manchmal kaum Platz. Ellie dachte sich auch nichts dabei, sich zum Schrank ihrer Mutter zu schleichen, um sich Klamotten von ihr ›zu borgen‹ oder sich mit ihrem Parfüm einzusprühen. Und sie las nur Zeitschriften, aber niemals Bücher.
    Doch eines hatten Ellie und ich gemeinsam: Von allen Kindern in unserer Klasse waren wir die einzigen ohne Vater. Selbst Kinder, deren Eltern geschieden waren, sahen das fehlende Elternteil zumindest am Wochenende oder in den Ferien, nicht Ellie und ich. Bei mir ging das natürlich auch nicht. Und Ellie hatte ihren Dad nie kennengelernt. Ellies Mutter nannte ihn immer ›den Einen‹ und das stets in ehrfürchtigem Ton, sodass ich annahm, er sei jung gestorben, wie mein Vater auch. Jahre später erfuhr ich dann, dass es sich nicht so verhielt. ›Der Eine‹ war ein verheirateter Kerl, der seine Frau betrogen hatte, sie aber nicht verlassen wollte.
    Ellies ältere Schwester, Lila, sollte abends auf uns aufpassen, wenn ihre Mutter auf Tour war. Doch Lila verbrachte die meiste Zeit in ihrem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte uns verboten, sie zu belästigen, und meistens taten wir das auch nicht, obwohl sie richtig coole, fluoreszierende Poster über ihrem Bett hängen hatte, die von Schwarzlicht angestrahlt wurden. Stattdessen kochten wir uns Dosensuppe und schauten uns Horrorfilme im Pay-TV an.
    Ich konnte Ellie alles erzählen, zum Beispiel, dass ich nachts manchmal schreiend aufwachte, weil ich geträumt hatte, meine Mutter sei auch gestorben. Oder dass der Gedanke mich ängstigte, nie etwas richtig gut zu können, denn wer will schon sein ganzes Leben lang nur Durchschnitt sein? Ich beichtete Ellie, dass ich Bauchschmerzen vorgetäuscht hatte, um mich vor einer Mathearbeit zu drücken, und dass ich einmal den Penis eines Jungen gesehen hatte, als seine Badehose beim Kopfsprung im Schwimmbad verrutscht war. An Schultagen rief ich sie abends an, bevor ich ins Bett ging, und morgens rief sie zurück, um mich zu fragen, welche Farbe meine Bluse heute hatte, damit sie sich passend anziehen konnte.
    Und dann, als ich einmal am Wochenende bei Ellie schlief, bin ich aus dem Bett geklettert, das wir uns teilten, und habe mich den Flur hinuntergeschlichen. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter stand auf, und es war niemand da, obwohl wir bereits drei Uhr morgens hatten. Lilas Tür war wie immer geschlossen, doch purpurnes Licht schimmerte unter ihr hindurch. Ich drehte den Knauf und fragte mich, ob Lila wohl noch wach war. Der Raum wirkte wie verzaubert: Alles war von Weihrauch vernebelt, und lavendelfarbenes Licht ließ die ultravioletten Poster zu einem dreidimensionalen Leben erwachen. Lila lag auf dem Bett. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und sich einen Gummischlauch um den Arm gebunden, so wie beim Arzt,

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