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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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noch hörte, »kommen Sie gut nach Hause!«
    Dann ging sie hinein und schlug die Türe so heftig zu, dass die Fenster klirrten.

17

    Georg hatte recht behalten. Es war ein schöner Augusttag, der schon am frühen Morgen sehr heiß zu werden versprach. Das Stück Himmel, das Luise vom Bett aus sehen konnte, war von diesem intensiven Blau, das es nur im späten Sommer gab. Ein feiner, kaum wahrnehmbarer Dunst am Horizont machte die Konturen in der Ferne weich. Luise fühlte sich auf einmal wie in den Sommerferien ihrer Kindheit, die ihr damals fast endlos vorgekommen waren. In ihrer Erinnerung waren sie eine lange Kette solcher Sommermorgen, die heiße, leere Tage versprachen, die man ausfüllen konnte, womit man wollte. Wie oft war sie schwimmen gewesen, wie oft hatte sie ganze Nachmittage Ball gespielt, Reifen getrieben, war Tretroller gefahren?
    Sie lag ganz still und dachte an früher. Es war nicht nur so eine Redensart. Früher war die Welt heil gewesen. Zumindest für sie und ihre Familie.
    Ich würde viel darum geben, dachte sie, wenn es wieder so wäre. Wenn wir wieder heil wären. Sie dachte an Luana und das Kind, das kommen würde. Sie dachte an Papa und an Paul, der immer verschlossener und unglücklicher wirkte. Und dann dachte sie an Georg, und mit dem Gedanken an ihn kam auch ein Stück von diesem Sommergefühl ihrer Kindheit, eine Ahnung von der früheren Unbeschwertheit, von der Leichtigkeit des Glücks. Georg. Wie eigenartig es war, dass sie sich schon so lange kannten, dass Georg sie schon so lange geliebt hatte und sie ihn immer nur als Kameraden gesehen hatte. Ob auch sie ihn damals schon geliebt und es nur nicht gewusst hatte?
    »Unsinn«, sagte sie laut und schwang sich aus dem Bett. Aber eines stimmte, dachte sie auf dem Weg ins Bad: Was sie für Georg fühlte, das war nicht nur dieses Prickeln und Sehnen, die Lust, ihn zu spüren und zu halten, sondern auch so eine tiefe, warme Liebe, wie sie sie sonst nur für Papa und Paul und Luana spürte.

    Unten hörte sie Paul und Luana, die schon frühstückten, und sie beeilte sich. Aber als sie vor dem Badezimmerspiegel stand und sich wusch, hielt sie plötzlich inne und betrachtete sich.
    Was er nur an mir findet?, seufzte sie innerlich. Sie war immer noch mager. Papas Erbe, dachte sie. Von der üppigen Schönheit Elisabeths trennten sie Welten. Rasch tauchte sie ihr Gesicht in das kalte Wasser im Waschbecken, um auf andere Gedanken zu kommen.
    Mit feuchtem Haar setzte sie sich an den Frühstückstisch. Paul war schon dabei, sich fertig zu machen.
    »Wartest du auf mich?«, bat sie ihn, »ich muss zur Wache. Wir könnten zusammen gehen.«
    »Beeil dich«, sagte Paul. Luana strich ein Butterbrot, klappte es zusammen und wickelte es in Zeitungspapier, bevor sie es Paul gab. Der steckte es in seine Aktentasche, während Luise schnell im Stehen Kaffee trank. Paul berührte Luana mit der Hand an der Wange. Es war eine dieser zärtlichen Gesten, durch die man erst verstand, wieso Luana Paul wohl liebte, obwohl er oft so ernst war.
    Als sie das Haus verließen, blieben beide fast gleichzeitig einen kleinen Augenblick stehen und holten tief Luft. Man hörte Pauls Stimme an, dass ihn das berührte.
    »Papa würde jetzt singen«, sagte er zwischen Heiterkeit und Trauer.
    Luise nickte nur.
    Sie gingen an der Kirche vorbei. Luise fiel ein, was sie Paul erzählen wollte. »Der Mesner ist gestern vor dem Haus gestanden.«
    »So«, sagte Paul kurz. »Wann denn?«
    Luise erzählte ihm, dass sie spät heimgekommen war und sie ihn gesehen hatte, wie er das Haus beobachtete.
    »Was will er noch?«, fragte Paul böse, »Papa hat er ja schon ins KZ gebracht.«
    »Er hasst uns«, sagte Luise. »Weil wir sind, wie wir sind.«
    Sie überquerten den Marktplatz. Paul steckte im Vorbeigehen seine Hand ins Wasser des Brunnens. Hoch über der Stadt flogen Schwalben. Das Wetter würde halten. Luise stieß Paul an.
    »Schau!«
    Ein Storch flog genau die Hauptstraße entlang bis zum Schlot der alten Brauerei, wo er sein Nest hatte. Sie sahen ihm beide nach.
    »Ich habe einen Auswanderungsantrag gestellt«, sagte Paul ruhig.
    Luise fühlte einen kleinen Stich im Magen. Sie schwieg.
    »Du solltest es dir überlegen«, sagte Paul nach einer Weile. »Du würdest dort vielleicht auch wieder fliegen können.«
    Luise nickte. Sie waren beim Rathaus angelangt.
    Paul berührte sie leicht an der Schulter. »Bis heute Abend.«
    »Bis heute Abend«, gab Luise zurück und ging weiter zur Wache,

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