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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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zusammenfaltete, fiel ihr Blick noch auf eine kleine Nachricht am Ende der Seite. Das Reichsministerium hatte im Interesse der Sicherheit die Bekenntnissynode der evangelischen Kirche aufgelöst. Es sah nicht so aus, als würden sie die Pfarrer in Zukunft in Ruhe lassen.
    Sie trank hastig ihren Kaffee aus, zahlte und verließ rasch das Café.

    Als sie über den Schulhof zum Eingang ging, wurde ihr bewusst, dass die lange freie Zeit jetzt doch schnell ein Ende nahm. Der August war bald vorbei. Es war so ein schöner Tag, dachte sie, aber er war ihr durch den Morgen verleidet. Sie versuchte, dieses Gefühl loszuwerden, bevor sie die Treppen hochstieg und an die Tür des Sekretariats klopfte. Fräulein Bartel, alt, sauer und mürrisch, wies auf die Tür zum Direktorat, als sie Luise erkannte.
    »Der Herr Direktor erwartet Sie schon.«
    Natürlich musste sie das so sagen, als sei Luise zu spät. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie war sogar ein paar Minuten zu früh. Hexe, dachte Luise, hässliche, alte Hexe. Aber der Gedanke, dass sie bald über ihr stehen würde, erfüllte sie mit einer gewissen Schadenfreude.

    Junge stand nicht auf, als er sie begrüßte. Er bedeutete ihr, sich zu setzen und nahm die blaue Kartonmappe mit dem Führungszeugnis, den Fotografien und dem Lebenslauf in Empfang.
    »Ah ja«, sagte er, als er die Mappe aufgeschlagen und das Führungszeugnis gelesen hatte, »kein Eintrag. Das ist schön. Schön«, wiederholte er. Das war ein Tick, den Luise noch aus der Schulzeit kannte. Manchmal zeigte sich das häufiger als sonst. Sie hatten sich im Klassenzimmer manchmal die Zeit damit vertrieben, eine Strichliste über die Wiederholungen zu führen.
    Junge stützte die Ellenbogen auf die Platte und legte die Fingerspitzen aneinander. »Sagen Sie, war das nicht der Tankstellenbesitzer, mit dem Sie da gestern im Kino waren?«
    Luise nickte. »Ein Jugendfreund.«
    »Jugendfreund«, wiederholte Junge, »so.«
    Luise unterdrückte die Frage, ob das nicht ihre Schulkameradin Elisabeth gewesen sei, mit der sie Junge gestern im Kino gesehen hatte.
    Wieder blätterte er in ihrer Mappe. Auf einmal hatte Luise den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen.
    »Fräulein Anding«, sagte Junge plötzlich, »ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ganz offen.«
    Mein Gott, dachte Luise entnervt, sag es!
    »Ich habe da … also, es geht da auch um Ihren Vater.«
    »Ja?«, fragte sie so kühl zurück, wie es ihr möglich war.
    »Nun, Sie wissen ja … Ihr Vater …«
    »Mein Vater ist im Konzentrationslager Dachau, weil er eine Kollekte für Glaubensbrüder erhoben hat«, sagte Luise. Sie hätte sich gewünscht, dass ihre Stimme nicht zitterte, aber darauf hatte sie keinen Einfluss.
    »Nun ja«, antwortete Junge fast geziert, »es ist nämlich so: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sieht vor, dass …«
    Luise unterbrach ihn: »Aber ich bin arisch! Mein Ariernachweis ist in der Mappe!«
    Junge lehnte sich zurück. »Nein, nein, darum geht es nicht. Geht es nicht.«
    Luise schwitzte. Es ärgerte sie, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie spürte, wie der Stoff in ihren Achseln feucht wurde. Junge fuhr fort, als sei er nicht unterbrochen worden. Luise sah über seinen Kopf hinweg auf das Führerporträt. Früher hatte da ein Kreuz gehangen.
    »Nach dem Gesetz ist es nämlich so, dass wir Bewerber, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung keine Gewähr dafür bieten, den nationalen Staat rückhaltlos zu unterstützen, nicht einstellen dürfen.«
    Luise holte tief Luft. »Ich bin in keiner Partei gewesen. Niemals. Ich bin vollkommen unpolitisch.«
    Junge sah sie an. »Ja«, sagte er, »das macht mir eben Bauchschmerzen.« Er lächelte. »In dieser Zeit der nationalen Erhebung gibt es kein unpolitisch mehr. Man ist für uns oder gegen uns. Sind Sie für uns, Fräulein Anding?«
    Luise sagte nichts. Es war heiß in Junges Raum. Eine Wespe flog wütend um ihre Köpfe und fand den Weg nach draußen nicht.
    »Für uns?«, wiederholte Junge.
    »Ich bin vor allem eine Mathematiklehrerin«, erwiderte Luise nach kurzer Zeit, »mit einem Ariernachweis und einem tadellosen Führungszeugnis. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
    Junge blickte sie prüfend an. »Sie sind mir persönlich nicht unsympathisch, Fräulein Anding«, sagte er nach einer Weile, »ich fände es schade, wenn wir auf Sie verzichten müssten.«
    »Ich auch«, sagte Luise steif.
    Es war

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