Ein Lied über der Stadt
bis er alleine würde fliegen wollen. Und davor hatte sie ein wenig Furcht.
»Weder du noch ich«, antwortete sie mit einem kleinen Lächeln. »Wir würden niemals hochkommen. Warum hast du auch so eine kleine Lichtung ausgewählt?«
Georg stellte sein Krad ab.
»Wenn du willst, roden wir heute Abend noch ein, zwei Hektar«, schlug er trocken vor, »ich glaube, in der Scheune hängt noch eine alte Säge.«
Luise musste lachen. Sie standen jetzt eng nebeneinander vor der Scheune, aber sie berührten sich nicht. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, war da am Anfang diese kleine Scheu. Vielleicht rührte sie daher, dass sie sich schon so lange kannten und es gleichzeitig so neu war, sich zu berühren.
»Ich habe mindestens eine halbe Stunde auf dich warten müssen«, beschwerte sie sich.
»Das ist gar nichts«, machte Georg eine lässige, wegwerfende Handbewegung, »ich habe sechs Jahre auf dich gewartet.«
Es war das erste Mal, dass er so etwas sagte. Luise spürte, wie ihre Wangen warm wurden, und sah hinüber zum Waldrand. Von einem der Dörfer, vielleicht St. Egid, hörte man leise, aber klar das Abendläuten herüber. Georg hob unwillkürlich die Hand, wie um die Mütze abzunehmen, hielt aber gleich wieder inne. Als er sah, dass Luise die Geste bemerkt hatte, hob er verlegen die Schultern.
»Es steckt so in einem drin«, sagte er fast entschuldigend, und dann, in selbstverspottendem Ton: »So sind wir Sozis vom Land: Ungläubig, aber beim Betläuten nehmen wir die Mützen ab.«
Luise lachte leise. »Das ist kein allzu schlimmer Charakterfehler«, sagte sie, »ich mag dich ja auch nicht deshalb, sondern weil du Mechaniker bist.«
»Ich hab’s geahnt«, antwortete er immer noch in diesem leichten Ton, »du bist in München ganz zum modernen Girl geworden. Flugzeuge, moderne Musik, Autos …«
Luise spielte mit und machte große Augen: »Du hast ein Auto? Wie viele Zylinder?«
Georgs Lachen schallte über die Lichtung. Es war selten, dass man ihn so frei lachen hörte, dachte Luise. Ein paar Krähen flatterten erschrocken auf.
»Ich hab ein Krad«, sagte er dann. »Und wenn wir heute doch nicht fliegen können, willst du vielleicht mit mir ins Kino?«
Luise wurde ernst. »Ist das klug?«, fragte sie. »Du als stadtbekannter Sozi mit dem Mädchen, dessen Vater im KZ ist?«
Georg zuckte mit den Achseln. »Komm«, sagte er, »ich nehme dich mit. Das Fahrrad kannst du übermorgen holen. Es soll ja trocken bleiben. Und dann …«
Er beendete den Satz nicht, aber Luise wusste ohnehin, was er sagen wollte. Dann würde er fliegen.
»Na dann.« Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen an, nahm ihr Kleid hoch und schwang sich auf den hinteren Sattel des Krads. »Zum Kino, junger Mann!«
Georg zog die Augenbrauen hoch und sah sie an. »Du sitzt auf dem falschen Platz. Das ist kein Flugzeug. Motorräder werden vom Vordersitz aus gefahren.«
Es war eine etwas holprige und recht aufregende Fahrt. Luise kannte sich mit Motoren aus. Sie war eine ausgezeichnete Pilotin, hatte jedoch bisher weder ein Auto noch ein Motorrad gefahren. Georg musste ihr erst erklären, wie man kuppelte und schaltete. Und bis sie es einigermaßen beherrschte, ging der Motor einige Male aus. Georg amüsierte sich. Luise kämpfte mit Gashebel und Schaltung. Aber als sie auf die Landstraße kamen, hatte sie das Prinzip begriffen und gab Gas. Georg legte ihr die Hände auf die Hüften. Ihre Wärme drang unmittelbar durch den dünnen Stoff, und sein ruhiger Griff war leicht und voller Vertrauen. Sechs Jahre hast du auf mich gewartet, dachte Luise, während sie noch einmal hochschaltete und diesmal nichts krachte und der Fahrtwind ihr Haar verwirbelte und den Stoff ihres Kleides flattern ließ, sechs Jahre. So ein Vertrauen, dachte sie, und lehnte sich ein wenig zurück, bis ihr Rücken seine Brust berührte.
Die Leute, die vor den Apollo Lichtspielen herumstanden und rauchten, sahen zu, wie Luise – jetzt schon ziemlich rasant – zusammen mit Georg vor dem Kino ankam. Unter den neugierigen Augen, die ungeniert zusahen, schob Georg das Krad auf den Gehsteig und stellte es vor dem Zaun des Nachbarhauses ab. Dann gingen sie hinein, und Luise dachte, wie gut es war, wenn man zu zweit durch das Spalier der Blicke ging und sie nicht alleine aushalten musste. Man konnte fast stolz an ihnen vorbeigehen, ihnen zeigen, dass man sich nicht verstecken musste. Erst jetzt kam Luise zu Bewusstsein, dass sie sich in den letzten Wochen immer so verhalten hatte, als
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