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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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wieder eine Weile still. Luise musste sich verbieten, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen.
    »Ich könnte mich natürlich für Sie verwenden«, sagte Junge schließlich. Es war das erste Mal, dass er sie nicht ansah, und Luise war zunächst erleichtert, bis sie verstand.
    »Sie würden sich für mich verwenden«, sagte sie tonlos, »das wäre großartig.«
    »Ja«, sagte Junge und sah sie jetzt wieder an. Lange und unangenehm, als warte er darauf, dass sie etwas sagte.
    Luise stand auf. Sie zwang ihre Stimme zur Festigkeit. »Ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen möchten, für welche Anstellung Sie sich bei meiner Schulfreundin Elisabeth verwandt haben.«
    Junge erstarrte, dann lehnte er sich zurück. »Raus!«, sagte er leise.
    Luise griff nach vorn auf seinen Schreibtisch, raffte ihre Unterlagen zusammen und lief aus dem Direktorat, knallte die Tür hinter sich zu, rannte durchs Sekretariat und knallte auch da die Tür. Dann hastete sie durch die leeren Gänge, die Treppe hi­nunter und durch den Schulhof. Sie hörte erst auf zu rennen, als sie schon fast zu Hause war.
    Dieses Schwein!, dachte sie und unterdrückte ein atemloses, wütendes Schluchzen, dieses Dreckschwein!
    Sie lehnte sich an die Mauer, um zu Atem zu kommen, ging dann in die Hocke und umschlang ihre Knie mit den Armen. Was hatte sie bloß getan! Sie hatte ihre Stelle weggeworfen! Papas Gehalt bekamen sie ja auch nicht, seit er in Dachau war. Sie hatte so darauf gebaut, es war alles so sicher gewesen, und jetzt bekam sie die Stelle nicht! Gott! Sie hätte abwarten sollen. Junge hatte nur geblufft. Bestimmt hatte er nur geblufft. Sie war nie in einer Partei gewesen, keine Kommunistin … Idiotin, dachte sie wütend auf sich selbst. Aber dann, noch wütender, dachte sie: Nein. Nein! Die sind die Schweine! Die machen, dass man so denkt. Die wollen, dass ich denke, ich bin selber schuld. Sie hieb mit der Faust gegen die Mauer. Noch einmal und noch einmal. Das Kalkweiß bekam einen rosa Schleier. Luise hörte auf.
    Verdammt, dachte sie, und schloss die Augen, weil jetzt die Tränen kamen, verdammt.
    Erst nach einer ganzen Weile stand sie auf. Wischte sich die Tränen ab und tupfte die aufgeschürfte Hand ab. Was für ein schrecklicher Tag! Als sie die Haustür aufschloss, kam ihr Luana entgegengelaufen. Sie lief trotz ihrer Schwangerschaft, und Luise erschrak.
    »Was?«, fragte sie, auf alles vorbereitet.
    »Dein Vater ist zurück«, flüsterte Luana. »Gottfried ist wieder da.«

18

    »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
    Sie standen im Garten. Luana hatte ihr gesagt, dass er als Erstes nach draußen gegangen war. Dort fand ihn Luise, wie er auf der Terrasse stand und den Garten betrachtete, Stück für Stück. Sie war tief erschrocken, als sie ihn sah. Er war glatt rasiert. Ohne seinen Bart sah er fremd aus und alt. Und dann – er war ja immer dünn gewesen, aber jetzt war er so schrecklich mager, dass sich die Wangenknochen deutlich unter der Haut abzeichneten.
    »Papa«, hatte Luise geflüstert, wieder mit Tränen in den Augen, vor Glück und vor Schrecken, »Papa.« Und dann: »Was haben sie gemacht? Was haben sie mit dir gemacht?«
    Aber er hatte nur leise gesagt: »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
    Luise hätte ihn gern umarmt, aber er wirkte nicht, als würde er das wollen. So stand sie neben ihm und sah, wie er den Garten betrachtete, als wäre es das erste Mal. Er lächelte nicht, und es wirkte auch nicht, als sei er froh, wieder zu Hause zu sein. Sie schwiegen lange. Es war, als könne er den Garten gar nicht richtig wahrnehmen.
    Schließlich wandte er sich Luise zu. »Und ihr?«, fragte er, als ob er sich überwinden müsste. »Wie ist es euch gegangen? Wie geht es dir?«
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte ihm doch jetzt nicht von Junge erzählen, nicht vom Mesner, der nachts vor dem Haus stand und auch nicht von Georg.
    »Wir haben dich vermisst, Papa«, sagte sie nur.
    »Ich euch auch, Luise«, antwortete ihr Vater leise.
    Luise musste sich große Mühe geben, nicht zu weinen. Es war so eine herzzerreißende Traurigkeit um ihn, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. »Wollen wir nicht reingehen, Papa?«, bat sie. »Luana kocht für dich.«
    Ihr Vater sah auf sein Handgelenk, aber er hatte gar keine Uhr um. »Es ist nicht einmal elf«, sagte er.
    »Sie dachte, du hättest bestimmt Hunger.«
    Er sah sie an. Die Augen waren groß in dem schmalen Gesicht. »Ja«, sagte er dann, »doch. Ich habe

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