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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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während Paul ins Büro abbog. Auf dem Weg sah sie wieder in den weiten blauen Augusthimmel. Das Rufen der Mauersegler weit oben um den Kirchturm, der schnelle Flug der Schwalben in den Gassen ihrer Stadt … sie wusste nicht einmal, ob es in Brasilien Schwalben gab oder Mauersegler. Aber eines war sicher: Georg war nur hier.

    Der Polizist auf der Wache war derselbe, den Paul und sie wegen Papa aufgesucht hatten. Er gab mit keiner Geste zu erkennen, dass sie ihm vertraut war.
    »Das macht zwei Mark, vierzig Pfennige«, sagte er geschäftsmäßig, als er ihr den gestempelten Bogen hinüberschob. Luise sah sich das Papier an, während sie ihre Börse herausnahm. Keine Einträge, stand da schlicht. Sie zahlte. Der Polizist verwahrte das Geld in einer stählernen Schublade und schrieb ihr eine Quittung.
    »Wissen Sie etwas von meinem Vater? Pfarrer Anding?«, fragte sie unvermittelt.
    Der Polizist schrieb seine Quittung fertig. Dann sah er auf. Etwas Freundliches kam in seine Augen. »Sie sind doch ein vernünftiges, ordentliches, patentes Mädchen«, sagte er zu ihr. »Können Sie nicht ein bisschen auf ihn einwirken, wenn er wieder da ist? Gott ist die eine, der Staat ist eine andere Sache. Das wird er doch verstehen. Wenn er dabei bleibt, dann will ihm doch keiner was. Wir leben ja nicht im Mittelalter. Und er wird schon wiederkommen. Ist ja kein Kommunist, Ihr Vater.«
    »Ja«, sagte Luise langsam und faltete das Führungszeugnis sorgfältig in der Mitte. »Ich will es versuchen.«

    Als sie wieder auf der Straße stand, atmete sie tief ein. Wir sprechen nicht dieselbe Sprache, dachte sie, wir leben nicht in derselben Stadt und nicht im selben Deutschland. Der Polizist war gewiss kein schlechter Mensch. Er war keiner wie der Mesner, der herumschlich und Leute ins Konzentrationslager brachte. Der Polizist war einer, der es ordentlich mochte, dem wahrscheinlich Leute wie der Mesner genauso unangenehm waren wie ihr, dem Recht und Gesetz heilig waren. Aber er fragte nicht, ob die Gesetze richtig waren. Er lebte letztendlich genauso in einer anderen Welt und verstand sie oder Papa genauso wenig wie der Mesner.

    Sie sah auf die Uhr. Es war noch über eine halbe Stunde bis zu ihrem Termin mit Junge. Sie nahm ihre Börse noch einmal he­raus und zählte ihr Geld. Sie sparte zwar, so gut sie konnte, weil sie Georg nicht immer das Benzin kaufen lassen konnte, aber für eine Tasse Kaffee sollte es trotzdem reichen. Sie ging hinüber in die Konditorei, die eben öffnete. Um diese Zeit waren es nur die besseren Damen der Stadt, die sich in der Konditorei trafen. Die Apothekersgattin. Die Frau des Tierarztes und die des Kurkrankenhausdirektors. Alles gesetzte, bürgerliche und wohlanständige Frauen. Luise suchte sich ein kleines Zweiertischchen und bestellte ihren Kaffee.
    Ob Mama auch dabei wäre?, fragte sie sich, während sie die Damen beobachtete, wie sie sich lebhaft unterhielten und nur ab und zu einen Blick zu ihr herüberwarfen. Wie wäre es, wenn sie noch lebte? Wären die Dinge anders gekommen? Wäre Papa trotzdem abgeholt worden? Wäre Papa so, wie er jetzt war?
    Es waren bedrückende Gedanken. Sie vermisste ihre Mutter nicht mehr oft, aber wenn es geschah, dann war es doch eine plötzliche, heftige Trauer. Vor allem jetzt, da Papa nicht hier war.
    Sie nahm sich die Tageszeitung, um sich abzulenken, überblätterte die ersten Seiten mit den schreienden Überschriften und kam zum Vermischten. In Bern war ein Professor wegen seiner Parteizugehörigkeit entlassen worden. Das klang vertraut, aber sie las weiter und sah, dass der Mann aus der Hochschule geflogen war, weil er Mitglied der NSDAP war. So also ging es auch. Aber eben nur in der Schweiz. In Berlin hatten sie den kommunistischen Reichstagsabgeordneten Kayser wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Weil er sich mit anderen Kommunisten getroffen hatte. Luise dachte an Georg.
    Dann blätterte sie um und sah überrascht ein Gesicht, das sie von früher kannte. Elly Beinhorn lächelte da aus ihrem Flugzeug heraus. Sie war vor ein paar Tagen die Strecke Gleiwitz – Istanbul – Berlin in dreizehn Stunden geflogen. Luise lehnte sich betroffen zurück. Die flog. Die flog in die Türkei und zurück. Die hatte keinen Vater im KZ und die hatte ein Flugzeug. Sie wollte nicht neidisch sein, aber das Gefühl einer großen Ungerechtigkeit konnte sie nicht unterdrücken. Fast wider Willen las sie den Bericht. Als sie dann, ärgerlich über sich selbst, die Zeitung

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