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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Georg, der nun alle Angst vergessen zu haben schien, sich weit über den Bordrand beugte und nach unten schaute. Er sah zu Luise hin, und zum zweiten Mal an diesem Tag musste sie tief Luft holen, weil es ihr so einen Stich gab wie vorhin, als die Schönheit des Landes sie tief im Innersten berührt hatte: Georg wirkte so glücklich, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Er sagte gar nichts, sein Haar wurde vom Flugwind verwirbelt, und dann deutete er auf etwas, das Luise erst erkannte, als die Tragfläche ihr den Blick frei gab. Es war ein Turmfalke, der weit unter ihnen über der Ruine kreiste. So wie sie, nur in der Gegenrichtung. Sie hörte nicht, was Georg sagte, während er wie gebannt dem Turmfalken zusah, und vielleicht hatte er es auch nur geflüstert, aber sie meinte, es an seinen Lippen ablesen zu können: Wir fliegen.

    Als sie eine halbe Stunde später wieder auf die Lichtung einflog, orientierte sie sich gewohnheitsmäßig nach den Blättern und Sträuchern, um sehen zu können, wie der Wind stand, aber es war nicht zu erkennen, und er war auch schon beim Start nicht stark gewesen. Sie drückte die Maschine nach unten, strich sehr knapp über den Baumwipfeln ein und versuchte dann so weich wie möglich zu landen, damit das Fahrgestell auf der Wiese nicht brach. Aber Georg hatte gut gebaut. Obwohl sie dann doch härter aufsetzte als geplant, hielt alles, und sie kam gut dreißig Meter vor dem Waldrand zum Stehen, wendete und rollte zurück zur Scheune. Dann schaltete sie den Motor aus. Die plötzliche Stille stürzte rauschend auf sie ein. Sie stemmte sich aus ihrem Sitz und sprang vom Flügel nach unten. Georg kam langsamer nach. Seine Bewegungen wirkten fast traumbefangen, als sei er eben erst aufgewacht.
    »Danke«, sagte er leise zu ihr, als er unten stand, die eine Hand noch auf dem Flügel. Allmählich hörte Luise wieder die Sommergeräusche auf dieser großen Lichtung. Das Zirpen der Grillen, das jetzt im Juli allmählich begann. Das sanfte ­Rauschen des Sommerwindes im Wald ringsum. Das vertraute, metallische Ticken eines Motors, der abzukühlen begann.
    »Nein«, sagte sie weich und drehte sich ganz zu ihm um, »ich danke dir.«
    Sie sah ihn an, sah sein verwehtes Haar, sein Gesicht, in dem es arbeitete, seine Augen, die immer noch groß vor Staunen waren. Und sie beugte sich leicht vor und küsste ihn.
    Hoch über ihnen, ungewöhnlich und spät für die Jahreszeit, sang eine Lerche im Steigflug.

16

    Was für ein Sommer das war! Er fühlte sich an, dachte sie einmal, wie damals, als sie bei einem Flugtag in Koblenz durch den Rhein hatte schwimmen wollen. Nicht eher als in der Mitte des Flusses hatte sie richtig gemerkt, wie mächtig die Strömung war, die sie fortzog und mit sich nahm, sodass sie erst nach über zwei Kilometern das andere Ufer erreichte. Ein wunderbares Gefühl war es gewesen, mit der Strömung zu schwimmen; schnell und fast unaufhaltsam, aber auch gefährlich, weil es nicht leicht war, den Strom wieder zu verlassen. Es war viel leichter, sich mitnehmen zu lassen, immer weiter und weiter. So fühlte sich dieser Sommer an.
    Luise war an jenem Tag spät nach Hause gekommen. Sie hatte mit Georg beim Flugzeug gestanden, sie hatten sich geküsst und wieder geküsst, als sei das immer schon so gewesen, als brauchte es keine Worte, um zu erklären, was geschehen war. Dann hatten sie am Flugzeug gearbeitet, wie früher und bis in den Abend hinein. Und dann waren sie zusammen auf ihren Rädern nach Hause gefahren, waren vor der Stadtmauer abgestiegen und hatten sich noch einmal geküsst, dort, wo niemand sie sehen konnte.
    Was war das, fragte sich Luise in diesen Tagen immer wieder, dieses Gefühl zwischen Glück und Entsetzen? Entsetzen über sich selbst, dass sie sich … man konnte nicht sagen: verliebt hatte. Es war ja vielmehr so, als sei diese Liebe immer schon da gewesen und sie hätte sie nur nicht gesehen. Aber ein Entsetzen darüber, dass sie so glücklich sein konnte, wie sie es zuvor noch nie gewesen war – nicht mit Greben und nicht einmal bei ihrem allerersten Alleinflug – so glücklich, und dabei war Papa fort, im Konzentrationslager, sie wusste nichts von ihm; nicht einmal, ob er noch dort war oder, und das wagte sie fast nicht zu denken, ob er noch lebte. Und trotzdem dachte sie dabei in jedem Augenblick auch an Georg, wann sie ihn wieder treffen würde, was er gerade tat, wie er war. Seit sie zurückgekommen war, hatte sie in ihrer Stadt wie unter einem niedrigen

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