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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Himmel gelebt, immer in dem unausgesprochenen Gefühl, dass man an Mauern und Stäbe stieße, wenn man sich zu schnell, zu weit, nicht vorsichtig genug bewegte. Aber jetzt, mit Georg, war es so, als hätte er einfach den Arm in eine ganz andere Richtung ausgestreckt und zu ihr gesagt: da, schau! Für sie war es, als hätte er ihr eine Welt neben ihrer eigenen aufgetan. Eine, in der man bis zur absoluten Atemlosigkeit rennen konnte, ohne an eine Grenze zu kommen.

    Wann immer es möglich war, trafen sie sich nun draußen in der Feldscheune bei ihrem Flugzeug. Luise hätte weit öfter Zeit gehabt als Georg, denn vor ihr lag ja noch der ganze August – sie musste erst im September antreten. Aber Georg arbeitete in der Tankstelle, und dort konnte sie nun nicht jeden Tag auftauchen und ihm bei der Arbeit zusehen. Manchmal fuhr sie trotzdem mit dem Fahrrad vorbei, einfach, um ihn aus der Ferne zu sehen. Wie ein Backfisch in der ersten Verliebtheit, dachte sie dann amüsiert, aber es war trotzdem schön.
    »Na, willst du immer noch fliegen lernen?«, hatte sie ihn nach ihrem ersten Kuss gefragt, und er hatte nur genickt.
    So kam es, dass Luise ihn unterrichtete, sooft sie zusammen sein konnten. Immer konnten sie nicht fliegen. Es war ein wortloses Übereinkommen, dass niemand zu wissen brauchte, dass sie dort draußen ein Flugzeug hatten. Glücklicherweise gab es ja drüben auf der Wülzburg einen Segelflugplatz, von dem auch ab und zu Privatflugzeuge starteten, sodass es nicht weiter auffiel, wenn sie ebenfalls in der Luft waren, aber starten und landen wollten sie denn doch nur, wenn niemand in der Nähe war. Zwar gehörte zumindest die Wiese bei der Scheune Georgs Onkel, aber um sie herum lagen Felder anderer Bauern, die jetzt im Sommer natürlich immer wieder dort zu tun hatten. So flogen sie meist nur an den Wochenenden, vor allem an den Sonntagen. Aber wenigstens an zwei Abenden in der Woche trafen sie sich, damit Georg das Fliegen lernte.

    Luana merkte, dass Luise sich verändert hatte. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, seit Papa fort war. Sie sagten immer: fort. Alles andere wollten sie nicht aussprechen. Das leere Haus war leichter auszuhalten, wenn man beisammen war.
    Luise arbeitete im Garten und hackte Unkraut im Kartoffelbeet, das Papa im Frühjahr angelegt hatte. Am Tag zuvor hatte es geregnet, und die Erde war weich. Luana pflückte Stachelbeeren. Von jenseits der Mauer tönte das geschäftige Treiben eines Sommervormittags in einem Landstädtchen herüber: Hufgeklapper, Automotoren, ab und zu ein unverständlicher Ruf, das Läuten einer Glocke. Und darüber das allgegenwärtige Schrillen der Mauersegler, die um den Kirchturm flogen und durch die Gassen schossen.
    » Você esta feliz? «, fragte Luana auf einmal lächelnd, richtete sich von ihrem Strauch auf und stützte die Hände in den Rücken. Man konnte ihren Bauch jetzt schon recht gut erkennen.
    Luise verstand wenigstens so viel Portugiesisch, dass sie wusste, was Luana meinte.
    »Wieso fragst du?«
    »Du hast … nicht gesungen … wie sagt man, wenn man so macht?«
    Luana summte eine kleine Melodie.
    »Summen«, antwortete Luise und fragte überrascht: »Ich habe gesummt?«
    Luana nickte. »Es hat sich schön gehört.«
    »Angehört«, korrigierte Luise leise lächelnd. Aber dann musste sie schon wieder an Papa denken und hob fast hilflos die Arme. »Ich … manchmal schon. Ich weiß nicht, Luana. Ich bin glücklich und traurig zugleich. Wie kann das sein?«
    Luana pflückte weiter Stachelbeeren.
    »So sind fast alle unsere Lieder«, sagte sie, »wir kennen das in Brasilia. Tristeza. Felicidade . Wir singen oft davon. Weil die Liebe immer so ist. Triste. Feliz .«
    Luise fragte sich nicht, woher Luana wusste, dass sie verliebt war. Sie sagte ja eigentlich nie sehr viel, aber sie beobachtete gut. Und dann kannte sie Luise ja schon so lange.
    »Ich mag dich sehr gern, Luana«, sagte Luise unvermittelt.
    Luana sah sie mit unergründlichen Augen an. »Ich weiß«, sagte sie dann ernst, »ich dich auch.«

    Es war nicht so, als hätte sie Papa vergessen. Sie hatte mit Paul zusammen an den Bischof geschrieben, um ihn zu bitten, er möge beim Reichsinnenminister intervenieren. Sie war beim Rechtsanwalt gewesen, und schließlich hatte sie sich schweren Herzens sogar dazu durchgerungen, Greben zu schreiben. Mittlerweile war er Hauptsturmführer, und er wohnte immer noch in München. Vielleicht konnte er etwas bewegen. Es war an diesem Vormittag, als

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